Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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Interview

„Du musst auch mal einen Schritt zu weit gehen“

Martin Schmidt fuhr steile Abhänge hinab, hatte sieben Kreuzbandrisse und schraubte an Autos. Als Trainer geht er übers Limit – und denkt doch schon ans Ende seines Jobs.

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Martin Schmidt fuhr steile Abhänge hinab, hatte sieben Kreuzbandrisse und schraubte an Autos. Als Trainer geht er übers Limit – und denkt doch schon ans Ende seines Jobs.

Martin Schmidt, wie war das Frühstück?
Sehr gut. Es war alles da, frische Brötchen, Käse, Schinken, Eier, Säfte. Es wurde Zeitung gelesen, viel geredet und geflachst.

Sie haben veranlasst, dass Mannschaft, Trainer- und Funktionsteam immer zusammen frühstücken und Mittag essen.
Richtig, wobei ich sagen muss, dass Thomas Tuchel das mit dem Frühstück schon eingeführt hat. Drei Mann sind pro Woche immer für das Einkaufen zuständig. In der vergangenen Woche war ich dran, zusammen mit den Spielern Emil Berggreen und Loris Karius. Wir gehen in den Supermarkt und kontrollieren auch ständig, ob noch genug im Kühlschrank ist. Abends schreiben wir uns dann über Whatsapp. »Denkst du an Käse, an Milch?« So bist du nicht Trainer, sondern auch Einkaufspartner.

Warum ist Ihnen das gemeinsame Essen wichtig?
Das ist für mich Leben. Bei mir zu Hause kam die Familie immer um 12 Uhr zum Mittag zusammen, ganz egal, wie weit weg ein jeder wohnt oder arbeitet. So soll es hier auch sein. Zum einen geht es um die Gemeinschaft: Wir starten zusammen um halb neun in den Tag und haben einen anderen Umgang miteinander als auf dem Platz. Ein Jhon Cordoba aus Kolumbien ist mit Pierre Bengtsson aus Schweden unterwegs, sie lernen sich untereinander und die Kultur ihrer Heimatländer kennen. Zum anderen lernen die Spieler so auch mehr über die bewusste Ernährung eines Profis, als wenn ihnen das ein Ernährungsprofessor an der Tafel erklärt.

Die Spieler sollen beim Essen also lernen?
Ja, wir vermitteln ihnen damit ja auch, welcher Hersteller gut ist, welche Nahrung gesund. Man kann diese Momente auch nutzen, um die Mentalität eines Teams zu entwickeln und auf die Egos einzuwirken. Der eine Spieler sagt mal zum anderen: »Ey, warum isst du jetzt zwei Steaks? Dein Kollege ist noch bei der Behandlung, der will auch noch etwas essen.« Das ist das gleiche Regulativ wie auf dem Platz, wenn jemand seinem Kollegen zuruft: »Junge, spiel den Ball ab, denk nicht nur an dich.«

Wie ist beim Essen der Umgang mit dem Trainer?
Viel entspannter als üblich. Man kann auch einmal ein bisschen rumflachsen. Mir sagt ein Spieler beim Mittag: »Hey Coach, eben im Trainingsspiel, das war klares Abseits.« Und ich antworte: »Nein, komm mit hoch, wir schauen es uns an.« Schließlich zeichnen wir jedes Training auf Video auf.

Sie erheben zudem von jeder Übungseinheit Daten und werten diese in Tabellen aus. Sie achten auf bewusste Ernährung und führen haarklein Statistiken. Ansonsten wirken Sie als Typ eher emotional als rational.
Das sind zwei verschiedene Eigenschaften von mir. Aber da bin ich ja nicht allein, mein Trainerteam ist genauso tief drin. Ernährung und gute Vorbereitung sind wichtig, aber trotzdem gehe ich im Wettkampf ans Limit und darüber hinaus. Ich kann mich noch an die ersten beiden Kreuzbandrisse erinnern …

… Sie hatten insgesamt sieben.
Richtig. Beim ersten kam ich schnell wieder zurück, dann folgte der zweite und ich sagte mir: »Ihr kriegt mich nicht unter.« Wieder kehrte ich zügig auf den Fußballplatz zurück. Dann habe ich es beim Skifahren übertrieben, später beim Downhill-Biken, dann wieder beim Fußball.

Sie nahmen nebenbei an Extremskirennen teil, fuhren trotz gebrochenem Halswirbel. Waren diese Rennen jemals lebensgefährlich?
Nein. Für Außenstehende mag es halsbrecherisch gewesen sein, für uns nicht. Wir waren schließlich darauf trainiert. Jeder Gleitschirmflieger riskiert mehr, als wir es damals getan haben.

Wann sind Sie zuletzt übers Limit gegangen?
(Lacht und schweigt zunächst.) Das darf ich hier jetzt nicht sagen. Generell aber hat mich die Vorbildfunktion schon verändert. Ich bin jetzt Bundesligatrainer, ich kann nicht mehr bei Rot über die Ampel gehen, wenn kleine Kinder in der Nähe stehen.

Hat der Job Sie gebremst oder Ihr Umfeld?
Diese Erfahrungen muss man selbst machen. Meine Eltern und Geschwister haben immer auf mich eingeredet, doch ich habe mir früher nie was sagen lassen. Ich wollte immer die Grenzen ausloten, immer der Mutigste sein. Wenn du das nicht tust, bist du irgendwann 50 und sagst: »Ich habe nie etwas richtig riskiert.« Du musst als Mensch, vor allem als Sportler, manchmal auch einen Schritt zu weit gehen. Sonst kennst du die Grenzen nicht und verpasst die schönsten Dinge.

„In meiner Werkstatt war alles sauber“

Spieler Ihres ersten Vereins in der Schweiz berichten, dass Sie für das Team Shirts mit dem Konterfei von Che Guevara drucken ließen.
Wir waren viele wilde Kerle, wir wollten nach oben. Dann kam mir dieser Spruch von Che Guevara in den Sinn: »Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!« Ich erzählte den Spielern von seiner Invasion auf Kuba, wie er mit nur 80 Leuten gelandet ist, sich durchs ganze Land kämpfte, bis zur Hauptstadt. Aber es ging nur um das Zitat und die Person, nicht um politische Zusammenhänge. Das Wichtigste ist, bei den Menschen Bilder im Kopf auszulösen. Das mache ich noch heute so.

Welche Bilder nutzen Sie in Mainz?
Schauen Sie sich an, was wir im Winter gemacht haben: Ein Teamevent fand im Gebirge statt, umrahmt von vielen Viertausendern. Wir zelteten bei minus zehn Grad im Schnee. Mir ging es darum, dass die Spieler Grenzen überwinden, klar. Aber das Wichtigste: Wir wollten Bilder schaffen. Bilder, die wir jetzt immer wieder zur Motivation einsetzen, die für den Teamspirit zuträglich sind. Unsere Zeltstadt auf 2500 Metern hängt jetzt seit dem Heimspiel gegen Bayer 04 Leverkusen als großes Foto in der Spielerkabine in der Coface Arena, an dem wir alle auf dem Weg auf den Platz vorbeigehen.

Wie reagieren die Spieler darauf?
Die meisten frieren direkt beim Anblick. Andere sagen nur: »Mann, war das geil.« Vielleicht wird der eine irgendwann zehn Millionen verdienen, der andere nicht, aber diese Nächte auf dem Berg werden sie alle nie vergessen. Bilder bringen ein Gefühl, eine Emotion, das prägt sich ein. Als ich in den Neunzigern meine Autowerkstatt führte, achtete ich auch darauf, dass alles sauber aussieht, wie in einem Wohnzimmer. Der Boden war weiß, die Wände gelb, da hingen Poster von schönen Autos. Die Kunden sollten direkt sehen, dass sauber gearbeitet wird.

Sie führten jene Tuning-Werkstatt zehn Jahre, dann schlossen Sie sie von einem Tag auf den anderen. Warum?
Ich bin nicht der Typ, der 50 Jahre den gleichen Job macht. Spätestens alle zwanzig Jahre kommt etwas anderes. Ich hatte damals alle wichtigen Automagazine abonniert. Nach einer Zeit blieben sie verpackt, ich rührte keines mehr an und bestellte sie nach und nach ab. Schließlich merkte ich zu dieser Zeit, dass ich gerne mit Menschen arbeite, wie ich sie motivieren kann. Ich organisierte damals mit meinen Kumpels nebenbei viele Events, Skirennen und Partys. Das machte mir mehr Spaß. Dann kam die Idee, ein Bekleidungsgeschäft zu eröffnen.

Auch ein ungewöhnlicher Schritt für einen späteren Trainer.
Doch meine Motivation blieb dieselbe: Geht nicht gibt es nicht. Egal, ob die Kunden ein eigenwillig getuntes Auto haben wollten in meiner Werkstatt oder eben ein außergewöhnliches Bekleidungskonzept für ihre Firma. Jemand wollte mal blaue Firmenkleider mit einer gelben Tasche und aufwendigen Stickereien. So was gab es nicht im Einkauf. Da haben wir eine Stickerei eröffnet und die Kleidung selbst designed und anfertigen lassen.

Sie waren gleichzeitig Designer, Verkäufer und Trainer in der zweiten Schweizer Liga?
Ja, das lief parallel. Vorher musste ich immer direkt von der Werkstatt zum Training beim FC Raron hetzen. In meinem Geschäft hat ab 15 Uhr meine Schwester übernommen und ich konnte mich mehr auf die Übungen konzentrieren. Das ist gewachsen bis zum Jahr 2010, als ich begann, mich zu hundert Prozent auf Fußball zu konzentrieren.

Ein Jugendturnier in Ergenzingen soll der Start Ihrer Karriere gewesen sein. Stimmt das?
Kann man so sagen. Ich war damals Trainer beim FC Thun, das ist ein kleiner Verein. Zu diesem Turnier sind wir mit einem Sechssitzer-Kleinbus und dem Zug angereist. Vor Ort sahen wir die riesigen Busse von Mainz und Stuttgart, und haben unser Büschen vor Scham irgendwo am Rand abgestellt. Doch auf dem Feld lief es überragend. Wir blieben bis zum Finale ohne Gegentor.

„Dann höre ich auf“

Dort schlugen Sie Mainz 05, in jenem Jahr deutscher A-Jugend-Meister. Von diesem Finale gibt es noch ein Plakat. (Springt auf, läuft aus dem Raum und kommt mit einem Plakat wieder.) Das hat einer meiner Spieler von damals vor kurzem auf Facebook gestellt. Hier sieht man, dass ich damals noch »FC Mainz« geschrieben habe und dazu: »37 Millionen Budget plus Buschauffeur.« Darüber malte ich deren riesigen Bus. Bei uns, also dem FC Thun, habe ich geschrieben: »3,7 Millionen Budget, Chauffeur: Mosi.«

Wer war Mosi?
Der Moser David, unser U19-Torwart, er hat damals den Bus gefahren. Schauen Sie hier, ich habe damals mit 3-5-2-System gespielt.(Lacht.) Wie gegen die Bayern.

Also haben Sie die Bayern mit der Taktik von diesem Jugendturnier geschlagen?
Das natürlich nicht, das wäre auch zu einfach gedacht. Das Spielniveau ist ein anderes, der Fußball hat sich verändert, mein Spielermaterial natürlich und auch mein Wissen. Es ist nicht vergleichbar. Wir hatten im Trainerteam vor dem Bayern-Spiel über diese taktische Variante gesprochen, die man aus der Bundesliga schon kennt und die beispielsweise Juventus Turin auch schon jahrelang so spielt. Aber für uns war es eben eine neue Herangehensweise. Und dann ist mir das Plakat von 2009 wieder eingefallen, das war aber nicht mehr als eine lustige Anekdote.

Den Mainzer Trainer Thomas Tuchel haben Sie damals so beeindruckt, dass er Sie später zum FSV holte.
Daran merkt man, wie der Fußball und das Leben von Zufällen bestimmt werden. Damals waren wir beide Jugendtrainer. Einen Monat später wurde Thomas Bundesligatrainer und erinnerte sich irgendwann an mich. Das ist schon verrückt, wie unsere Welten wieder zusammenkamen. Sieben Jahre nach diesem Turnier stehen wir uns beide gegenüber beim Spiel in Dortmund, nicht im Pokal, nicht in der Regionalliga, sondern in der Bundesliga, vor 80 000 Zuschauern – und dann spielt der Zweite gegen den Fünften. Thomas hat schon sehr viel richtig gemacht, die Dortmunder haben eine tolle Mannschaft. Aber bei uns ist es auch nicht schlecht gelaufen.

Wie erklären Sie sich diesen Mainzer Aufschwung?Es heißt, für Ihr Team sei Laufen die Basis …
… nicht nur das, sondern die Leistung. Und das schon im Training. Wer da nicht mitzieht, hat es sehr schwer bei uns. Wir haben uns im Sommer als Ziel gesetzt, das laufstärkste Team der Bundesliga zu werden – das verdient Opfer. Die Spieler müssen von ihrer Mentalität her zu diesem Stil passen. Wir haben außerdem den Grundgedanken des laufintensiven Spiels und des Umschaltverhaltens in viele Übungsformen im Training eingebaut.

Wie schaffen Sie es, dass die Spieler bereit sind für diesen hohen Aufwand?
Die Spieler müssen sowieso die intrinsische Motivation haben zu laufen. Danach scouten wir sie. Wenn wir vom typischen Mainz-05-Spieler sprechen, dann von einem, der gerne läuft, gerne sprintet. Mittlerweile haben wir viele Spieler dieses Typus reingebracht, unser Team also auch danach ausgerichtet. Bei anderen Trainern, die mehr auf Ballbesitz bauen, besteht das Team eher aus feinen Technikern. So ist es, jeder Trainer formt sein Team nach seiner Philosophie.

Wie sieht Ihr persönlicher Plan aus? 05-Trainer sind schließlich in Dortmund gefragt.
Ich kann das nicht beantworten. Ich weiß nur, dass ich in meiner Laufbahn bisher immer nur Rot-Weiß getragen habe. Beim FC Naters, beim FC Raron, in Thun, bei Mainz. Ich kann mir keine anderen Farben vorstellen.

Sie sagten, dass Sie einen Job nicht länger als zwanzig Jahre machen können. Auch Fußball nicht?
Je länger ich von zu Hause weg bin, umso mehr vermisse ich meine Familie, die Menschen, die Berge, das Skifahren. Ich bin mir sicher, dass es in den nächsten Jahren einen Tag gibt, an dem ich sage: »So, das war jetzt Fußball. Ich gehe wieder heim.« Davon bin ich zu einhundert Prozent überzeugt.

Selbst wenn Ihr Team im Europapokal spielt?
Selbst dann. Sobald ich merke, dass bei mir an einem Punkt die Leidenschaft nachlässt, dann muss ich die Finger davon lassen. Wenn ich nicht zu einhundert Prozent drin bin, kann ich die Leute nicht anstecken, dann habe ich keinen Erfolg – und Misserfolg will ich nicht. Wenn mein Team irgendwann nicht mehr leidenschaftlich auftreten sollte, muss ich mir eingestehen, dass ich meine Arbeit nicht gut mache. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich sage: »Gut, Fußball habe ich gesehen, jetzt beginnt was Neues.«

Sie könnten die Leidenschaft auch drosseln.
Dann wäre ich nicht mehr Martin Schmidt. Dann wird es nicht gut.