Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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England Interview

»In den schicksten Häusern gibt es die schäbigsten Zustände«

Vom Müllmann in Wales zur Kultfigur in Everton: Neville Southall war einer der besten Torhüter Europas. Er verließ Pokalfeiern und chauffierte lieber die Fans des Gegners.

Foto: Joe Miles


Neville Southall stand insgesamt 18 Jahre beim FC Everton unter Vertrag und wurde dort zur Vereinslegende. Southall führte den Klub zu zwei Meisterschaften und Pokalsiegen sowie einem Europapokalsieg. 2004 wählten ihn die Fans zum größten Helden der Vereinsgeschichte. Er ist der letzte Torwart, der in England zum »Fußballer des Jahres« gewählt worden ist. In diesem Jahr erschien eine neue Version seiner viel beachteten Biografie »The Binman Chronicles«.

Neville Southall, Sie sind eine Legende beim FC Everton. Doch stimmt es, dass Sie beinahe bei Fortuna Düsseldorf gelandet wären?
 
Nun ja, »beinahe« ist etwas übertrieben. Ich war 14 Jahre alt und wir reisten mit meinem walisischen Heimatverein für ein Freundschaftsspiel nach Düsseldorf. Danach kam mein Onkel zu mir und sagte: »Die wollen dich haben. Willst du bleiben?« Es war vollkommen bizarr.

War Ihr Onkel damals der Trainer?
Ja, offiziell. Doch er hatte keinen blassen Schimmer von Taktik oder sonst was. Er kümmerte sich nur darum, dass wir zu elft waren. Sie müssen sich die Szene in Düsseldorf mal vorstellen: Er fragte mich nicht, ob ich irgendwann dorthin wechseln wolle. Hätte ich »ja« gesagt, wären die anderen nach Hause gefahren, und ich wäre mit meinem Rucksack dageblieben.

Ihr Werdegang zum Profi war auch so kurios genug. Während sich andere Spieler in den Jugendteams großer Vereine entwickelten, tingelten Sie über die Dörfer.
Das kann man wirklich so sagen. Ich spielte einmal auf einem Platz, der von der Form her eher wie eine Skateboard-Halfpipe war. Die Mitte des Platzes lag einige Meter tiefer als die beiden Strafräume. Ein anderes Mal spielten wir auf dem Land und an der Mittellinie stand ein Telefonmast.


Was passierte, wenn der Ball dagegen sprang?
Pech gehabt. Wissen Sie, damals haben sich die Leute nicht darüber beschwert. Man spielte einfach und jammerte nicht. Auch der Untergrund war manches Mal der reinste Schlamm, doch wenn du in der Provinz spielst, dann erwartest du auch keinen Wembley-Rasen. Ich erinnere mich noch an ein Spiel auf einem offenen Feld. Der Wind blies so stark, dass ich meine eigenen Abschläge fangen musste.

Haben Sie zu dieser Zeit geglaubt, dass Sie Profi werden? 
Nein, aber ich habe wirklich nichts anderes gemacht, als zu spielen. Ich kickte in meiner Mannschaft und zusätzlich noch sonntags mit den alten Männern in einem Pub-Team. Da waren kernige Typen dabei und ich stand als Knirps im Tor. Mit 15 Jahren bin ich nur noch zur Schule gegangen, um Fußball zu spielen. Ich habe einfach bei jeder Jahrgangsstufe nur den Sportunterricht mitgemacht. Das hat damals niemanden interessiert, ich war eh Schulabgänger.

Was haben Sie danach gemacht?
Ach, alle möglichen Jobs. Ich arbeitete als Kellner in einem Restaurant, wo sie die Reste vom Boden wieder in die Fritteuse gehauen haben. Als ich genug hatte, wurde ich Maurergehilfe. Ein Knochenjob, vor allem als ich mir beim Fußball einmal eine Rippe gebrochen hatte.


Sie arbeiteten weiter?
Natürlich. Ich hatte doch keine Kohle und war jugendlich naiv. Ich dachte, dass es schon irgendwie zusammenwachse. Was ich gelernt habe: Es ist nicht hilfreich für die Heilung einer Rippe, wenn du den ganzen Tag Eimer mit Schutt herumschleppst.

In England nennen Sie einige Fans immer noch scherzhaft »den Müllmann«.
Ja, auch diesen Job habe ich ausgeübt, allerdings nur einige Monate lang. Vielen gilt es als unehrenhafter Beruf, sie haben keinen Respekt vor dieser Arbeit. Dabei hat doch jeder Müll, er gehört zum Leben dazu. Und ich sage Ihnen eins: In den schicksten Häusern in der Gegend der Reichen habe ich die schäbigsten Zustände gesehen. Die haben ihre Gärten so verkommen lassen, dass ich nicht einmal meinen Hund dort hineingelassen hätte.

»Es war wie im Film ,Gladiator’«

Wie brachten Sie es dann von einem Arbeiter in Wales zum Stammtorwart in Everton?
Zunächst einmal spielte ich bei unterklassigen Vereinen, bei Winsford United und Bury. Doch auf großem Fuße lebte ich auch dort nicht. Meine Frau und ich zogen in ein Haus, das schlecht gedämmt war. Die Rechnung für die Heizkosten war derart hoch, dass wir fast all unsere Möbel verkaufen mussten. Wir behielten eigentlich nur die Betten. Ein Auto besaß ich auch nicht. Als Everton mich verpflichtet hatte, fuhr mich Burys Trainer hin.

Es heißt, dass Sie selbst in Ihrer ersten Saison bei Everton mit dem Fahrrad zum Training gefahren seien.
Nein, nein, das ist ein Mythos. Wie hätte ich denn täglich von Nord-Wales nach Everton mit dem Fahrrad fahren können? Ich bin schließlich nicht Lance Armstrong. Doch in diesem Zusammenhang ist mir schon etwas Peinliches passiert. Eines Tages wusste ich nicht, wie ich nach Hause kommen sollte, und fragte einfach Evertons Trainer Howard Kendall, ob er mich mitnehmen könne. Er dachte auch, ich wolle ihn auf den Arm nehmen

Sie arbeiteten danach lange mit Kendall zusammen. Wie war Ihr Verhältnis?
Wir waren ehrlich zueinander. Wenn er mir zu Unrecht die Schuld an einem Gegentor gab, sagte ich schon einmal: »Well, fuck off.« Dann schaute er sich das Video noch einmal an und nahm seinen Vorwurf zurück. Wir waren beide nicht nachtragend. Howard hatte dieses besondere Gespür für die Situationen, etwas, das nur gute Trainer haben.

Was meinen Sie konkret?
Über die Jahre hinweg hörst du immer und immer wieder die gleiche Stimme, die gleichen Ansprachen des Trainers, das verbraucht sich irgendwann. Als wir also einmal ein FA-Cup-Spiel gegen Stoke hatten, öffnete er einfach das Fenster in der Kabine, so dass wir von draußen die lauten Gesänge der Fans hören konnten. Der Trainer sagte nur: »Das sind die Leute, für die ihr spielt.« Mehr nicht. Das war die beste Motivationsrede meiner Karriere.

Torhüter bekommen die Atmosphäre in einem Stadion ganz nah mit. War es für Sie Motivation oder Belastung?
Ganz ehrlich: weder noch. Ich hatte Scheuklappen auf, habe um mich herum nichts wahrgenommen. Wenn dich die gegnerischen Fans das ganze Spiel über anmaulen, dann machst du nur Folgendes: Du gewinnst das Spiel, winkst nach dem Abpfiff schön zu ihnen rüber und gehst in die Kabine. Besser geht’s nicht.

In einem Spiel gegen Leeds waren Sie hingegen so frustriert, dass Sie die komplette Halbzeitpause am Torpfosten saßen.
Wenn du glaubst, dass etwas richtig ist, dann musst du es durchziehen. Ich musste meinen Kopf leer kriegen. Viele hielten es für einen Protest, weil vorher meine Vertragsverhandlungen gescheitert waren. Doch das stimmte nicht: Ich war sauer wegen des Spiels, wir lagen 0:2 hinten und ich brauchte Ruhe. Wo sollte ich hingehen? In der Kabine war es zu laut und sonst gab es keinen Platz im Stadion. Am Pfosten konnte ich durchschnaufen, weil ich eben die Zuschauer im Stadion und ihre Rufe ausblendete, sie einfach nicht wahrnahm.

Selbst die Fans im Goodison Park haben Sie nie beeindruckt?
Jedenfalls nicht in dem Maße, dass ich die Konzentration verloren hätte. Mit einer Ausnahme: das Halbfinale im Europapokal der Pokalsieger 1985 gegen die Bayern. Da hat es mich schon davongetragen. So etwas habe ich nie vorher und nie danach erlebt, dieses Spiel haben die Fans für uns gewonnen. Schon vor dem Spiel brauchten wir eine Stunde, um uns mit dem Bus durch die Menschenmassen zu schlängeln. Die Bayern waren zu dieser Zeit eine der besten Mannschaften der Welt und gingen sogar in Führung. Doch es war so unglaublich laut, wir drehten das Spiel zum 3:1. Es war wie in dem Film »Gladiator«.

Wie haben Sie den Sieg gefeiert?
Ich fuhr nach Hause und trank eine Tasse Tee. Das war’s. Wenn es vorbei ist, dann ist es vorbei.

Ich frage deshalb, weil noch heute die Fans von Everton erzählen, wie Sie diese Feiern hassten. Sie sollen sich nach dem FA-Cup-Sieg 1984 gar geweigert haben, den Pokal anzufassen.
Ja, das stimmt auch. Ich fand das absolut peinlich. Wenn ich den Pokal gewonnen habe, dann habe ich ihn gewonnen. Ich muss ihn dann nicht noch allen zeigen.

Auch bei Ihrem zweiten Pokalsieg 1995 sind Sie einfach verschwunden.
Ich wusste, dass es mein letztes Spiel in Wembley war. Wir schlugen Manchester United mit 1:0, und ich dachte mir, dass ich so feiere, wie ich es will: Also setzte ich mich ins Auto und fuhr ganz entspannt nach Hause. Auf der Autobahn sammelte ich noch ein paar Leute ein, die eine Panne hatten. Sie waren Fans von Manchester United.

Was haben die Fans dazu gesagt, dass der gegnerische Torwart sie mit zurück nimmt?
Ich habe sie natürlich nicht darauf angesprochen. Sie hatten sowieso einen Scheißtag, da wollten ich ihnen nicht noch ein paar Sprüche drücken. Und die Jungs haben gar nicht realisiert, dass ich sie mitnehme. Sie dachten, ich sei nur ein Idiot, der so aussieht wie Neville Southall. Denn normalerweise wäre der ja beim Siegerbankett.

»Urlaub war für mich die Hölle«

Sie haben nie Alkohol getrunken. Wie liefen die Mannschaftsabende für Sie ab?
Ich wollte immer so schnell wie möglich wegkommen. Spätestens gegen zwei Uhr waren die meisten Mitspieler so betrunken und der Raum so verraucht, dass keiner mehr etwas mitbekommen hat. Aber das Beste innerhalb einer Mannschaft sind doch sowieso nicht die Trinkgelage, sondern der alltägliche Quatsch, den man so macht.

Zum Beispiel?
Wir waren einmal vor einem Auswärtsspiel im Hotel auf unseren Zimmer. Einer aus der Mannschaft war gerade auf einer Sauftour, da haben wir sein Zimmer komplett leer geräumt. Wir haben alles weggestellt: das Bett, den Fernseher, die Schränke, die Stühle – alles. Er kam zurück und dachte, er sei im falschen Hotel und irrte durch die Gegend.

Was war Ihr Lieblingsscherz?
Ich habe meine Mitspieler am liebsten beim Torschusstraining gefoppt, indem ich ihre Schüsse lächerlich machte. Ich zog zuerst die Handschuhe aus und wehrte ihre Bälle dann sogar mit dem Kopf ab. Das hat die Jungs wahnsinnig gemacht.

Dabei trainierten Sie doch ansonsten wie ein Besessener. Sie gelten als einziger Fußballer, der seinen Urlaub hasste.
Genau, die Urlaube haben mich total aufgeregt. Ich saß auf der Liege und dachte: »Das ist doch scheiße, ich könnte in der Zeit doch viel besser trainieren.« Ich nahm ein Buch, las zwei Seiten und packte es wieder weg.

Wie war das für Ihre Familie?
Sie fragten: »Kommst du mit zum Strand oder ins Wasser?« Ich sagte nur: »Nein, warum? Ich sehe darin keinen Sinn.« Eine Woche Urlaub war hart, zwei Wochen die Hölle. Auch wenn das nicht romantisch klingt, aber so war es nun einmal für mich.

Immerhin waren Sie der wohl erste Spieler, der seiner Frau eine Liebesbotschaft auf dem Spielfeld überbracht hat.
Richtig, ich habe einen Trend losgetreten. Es gab damals viele schmierige Berichte in den Zeitungen, auf die ich hier nicht eingehen will. Also schrieb ich auf mein Shirt: »I love my wife.« Einige Wochen später spielten wir gegen Sheffield Wednesday und deren Torwart zeigte ein Shirt, auf dem stand: »I love Neville Southall’s wife, too.» Ich habe mich schlappgelacht.

Wenn Sie auf Ihre Laufbahn zurückblicken: Was war Ihr Highlight?Die zwei englischen Meisterschaften, zwei Pokalsiege, der Europapokalsieg …
… bei mir überwiegt der Ärger: Wir hätten schließlich noch viel, viel mehr erreichen können. Doch mitten in unserer Hochphase hat die UEFA in Folge der Heysel-Katastrophe die englischen Mannschaften mit einem Bann für die europäischen Wettbewerbe belegt.

Sie wirken noch immer sehr sauer auf den Fußballverband.
Lassen Sie es mich so sagen: Die UEFA kehrt auch mal sehr gerne Dinge unter den Teppich.

Was meinen Sie?
Ich war Trainer der walisischen U17, wir bestritten ein Spiel in Osteuropa, in dem einer unserer Jungs von den gegnerischen Spielern als »Nigger« beschimpft wurde. Wir meldeten den Vorfall bei den UEFA-Offiziellen, doch die sagten nur: »Wir wollen keine Probleme.« Bei einem Jugendturnier in Minsk waren wir auf derselben Hoteletage wie die Schiedsrichter. Sie haben sich Nutten aufs Zimmer kommen lassen. Auch davon hatte der Verband Kenntnis. Doch die Funktionäre nehmen Wales nicht ernst, sie reagieren nur, wenn es um die Großen geht. So ist es mittlerweile im Fußball: Wenn du kein Geld hast, dann haben sie dich an den Eiern.

Heute arbeiten Sie immer noch mit Kindern und Jugendlichen. Was machen Sie genau?
Ich habe sehr lange für ein Projekt namens NEET, »Not In Education, Employment or Training«, gearbeitet. Es drehte sich um Kinder, die die Schule schwänzten, sie abgebrochen hatten oder auch keine berufliche Zukunft besaßen. Wir haben mit ihnen vor allem im Bereich Sport gearbeitet und darüber versucht, ihnen Selbstvertrauen und Struktur fürs Leben zu vermitteln. Momentan arbeite ich an einer Schule mit 12- bis 16-Jährigen und knüpfe Kontakte zu Firmen, die den Kindern Praktika anbieten.

Was für ein Typ Betreuer oder Lehrer sind Sie?
Kein gewöhnlicher. Ein Schüler hatte Probleme mit dem Rechnen, da fing ich an, mit ihm Dart zu spielen. So hat er sich das Multiplizieren draufgeschafft. Und natürlich ist der Fußball ein Schlüssel. Er ist in manchen Dingen besser als die Schule: Er lehrt dich, mit Enttäuschungen umzugehen und die Stimmen von anderen auszublenden. So war es bei mir: Deshalb saß ich auch eine Halbzeitpause lang unbeeindruckt am Pfosten.