Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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Investigation

Spion im Forsthaus

Der 1. FC Magdeburg war in den Siebzigern das Aushängeschild der DDR – und wurde auch deshalb besonders bewacht. Die Akten zeigen, wie die Stasi den Klub und die Spieler kontrollierte

Ein Spieler übergab sich auf der Rückreise aus Frankreich in der Flughafentoilette. Nach dem Spiel gegen Braunschweig tranken die Spieler des 1. FCM circa fünf Bier im Forsthaus. Ein Spieler hatte seit einem halben Jahr seine Freundin nicht mehr gesehen.

Dies sind keine voyeuristischen Enthüllungen des Boulevards über den 1. FC Magdeburg, sondern Auszüge aus Stasi-Akten. Der Klub, mehrmaliger Meister der Oberliga und einziger Europapokalsieger der DDR, hatte jahrelang Spione in seinen Reihen. Ein »Informeller Mitarbeiter« des Geheimdienstes saß sogar an der Spitze des Vereins. Wie der »Focus« im vergangenen Jahr berichtete, arbeitete Klubchef Ulrich Kammrad von 1976 bis 1981 für die Stasi. Er bespitzelte dabei die Spieler und Betreuer und erstattete detailliert Meldung. Das Magazin zitierte ihn mit den Worten: »Ich habe dort meine Aufgaben erfüllt. Ich habe dafür gesorgt, dass die DDR sportlich anerkannt wurde.«

„Mit IM-Spitzeln durchsetzt“

Magdeburg war keine Ausnahme, auch in anderen Vereinen agierten Klubvorsitzende oder andere Funktionäre als Stasizuträger. Nach Recherchen des MDR arbeiteten allein in Erfurt und Jena mindestens zwölf Klubverantwortliche als »Informelle Mitarbeiter«. Nicht alle taten dies aus politischer Überzeugung, manche Funktionäre agierten unter Druck und aus Angst vor Repressionen mit der Stasi. Der Politikwissenschaftler Hanns Leske schreibt in seinem Buch »Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder«: »Es ist – leider – keine Übertreibung festzustellen, dass die DDR-Oberliga und die Nationalmannschaft mit IM-Spitzeln des Ministeriums für Staatssicherheit durchsetzt waren.«

Der »Fall Kammrad« in Magdeburg ist der jüngste in einer ganzen Reihe, er zeigt exemplarisch, wie die Stasi bei Fußballvereinen vorging. Kammrad selbst will sich nun auf Nachfrage von 11 FREUNDE nicht äußern. Doch die Akten zeigen, welchen Einfluss die Stasi auf den seinerzeit erfolgreichsten Fußballklub der DDR nehmen wollte – und auch nahm.

Im Mai 1976 wurde Kammrad als »IM Volker Ernst« verpflichtet. In der Beurteilung steht: »Der IM ist bereit, Forderungen unseres Organs im Leistungssportbereich durchzusetzen.« Die Stasi wollte Überwachung, Kontrolle und Einfluss beim FCM. Dabei ging es nicht nur um die Liebschaften der Spieler oder ihren Bierkonsum – sondern auch um ihre Zukunft als Sportler. Verdächtige Kicker sollten gestoppt werden, in den damaligen Worten: »ausdelegiert«.

Kammrad war kein Unbekannter bei der Stasi. Schon 1957 hatte er, damals im Alter von 19 Jahren, als inoffizieller Mitarbeiter fungiert, zunächst zur »Absicherung der Studenten« auf einer Sportschule in Leipzig. Insgesamt neun Jahre blieb er Mitarbeiter, damals noch unter dem Decknamen »Ernst Müller«, dann wurde er Parteisekretär beim anderen Magdeburger Klub, dem SC. Seine Spitzeltätigkeit ruhte den Akten zufolge zehn Jahre lang.

Er soll Spieler und Betreuer kontrollieren

1976 übernahm Kammrad das Amt des Vorsitzenden beim 1. FC Magdeburg. Beim Ministerium für Staatssicherheit erinnerte man sich wohlwollend an Kammrads vorangegangene Dienste. »K. findet schnell Kontakt zu anderen Personen. Er ist beweglich, freundlich in seiner Art«, heißt es in den Akten. Einzig bei persönlichen Fragen und Fehlern in der eigenen Arbeit weiche er aus oder berichte unwahr. Kammrad erklärte im Mai 1976 schriftlich, »auf freiwilliger Basis zur Sicherung des Leistungssports im 1. FCM gegen feindliche Angriffe beizutragen«. Sein Spitzelname änderte sich, aus Ernst Müller wurde Volker Ernst.

Die Stasi hatte konkrete Pläne mit dem Klubvorsitzenden. Er sollte bei internationalen Spielen des Vereins Sportler und Betreuer »kontrollieren« und »unmoralisches Verhalten« melden. Die DDR-Führung fürchtete die Republikflucht der Fußballer, die damals für das Prestige des Staates sorgen sollten. Gerade der 1. FC Magdeburg war in jener Zeit dauerhaft im Europapokal vertreten und geriet so in den Fokus.

Vor Kammrads Anwerbung lief im Ministerium eine »operative Personenkontrolle«, eine Überwachung, auch durch Wanzen in der Wohnung eines Spielers. Dieser stand im Verdacht, seine Flucht in die BRD zu planen. Kammrad sollte laut den Akten den Mann beobachten, befragen und aus dem Verein »delegieren«.

Es handelte sich dabei wohl um den Abwehrmann Bodo Sommer, der seit 1970 dem Team angehörte. Sommer kam jedoch nicht über die Rolle eines Ersatzmanns hinaus. Ehemalige Mitspieler berichten, dass er in kleiner Runde im Sportlerforum seinem Frust freien Lauf gelassen habe. Er wolle »abhauen«, wenn seine sportliche Situation sich nicht ändere. Sommer aber meinte damit einen Vereinswechsel, keine Flucht. Es waren Satzfetzen, aufgeschnappt von willfährigen Zuträgern des Systems. Aus einem Missverständnis wurde ein Gerücht, das Nachbarn weitertrugen. Die Stasi erhielt laut Akten einen anonymen Brief, in dem Sommers Fluchtpläne offenbar wie ein Fakt dargestellt wurden. Der kurze Plausch unter Kollegen beim abendlichen Zusammensitzen hatte schwerwiegende Folgen für Sommer.

Die Stasi-Funktionäre suchten Kammrad auf, sie erläuterten, was über Sommer vorlag. Sie sprachen lediglich von Hinweisen auf Äußerungen und konnten keine genauen Quellen angeben. Die Gerüchte über Sommers geplante Republikflucht speisten sich aus dem Hörensagen. Und dennoch gab es die klare Ansage des MfS: »Aus diesen gegebenen Unsicherheitsfaktoren heraus ist es der Klubleitung nicht möglich, der Ausreise nach Italien zuzustimmen.«

„Er war ein Bauernopfer“

Im September 1976 spielte der 1. FC Magdeburg in der ersten Runde des Europapokals im italienischen Cesena. Kammrad bat unter anderem Trainer Klaus Urbanczyk zu einem Gespräch, es ging um die Vorwürfe gegen Sommer. Die Losung an Kammrad von offizieller Stelle war klar: Sommer durfte die Reise nach Italien nicht antreten. Trainer Urbanczyk reagierte skeptisch auf die Anweisung. Eine solche Entscheidung sei der Mannschaft nicht zu vermitteln, schließlich trainiere er gut, sei fit und strenge sich im Studium an.

Urbanczyk sagt heute: »Sommer war ein Bauernopfer. Bei den anderen Spielern hätten sie sich so eine Maßnahme nicht getraut. Ich sagte, dass Sommer in Italien doch keine Rede halten, sondern nur Fußball spielen will.« Trotzdem erhielt Urbanczyk die Anweisung, in der Mannschaftsbesprechung Sommers Ausbootung mit einer taktischen Maßnahme zu erklären. Der Trainer weigerte sich und erwiderte, dass der Vorsitzende dies selbst der Mannschaft sagen solle. Kammrad bestellte Sommer kurzerhand direkt ein und konfrontierte ihn in einem Gespräch mit den Vorwürfen.

Sommer hatte den Stasi-Vermerken zufolge von den Gerüchten gehört, aber nie für möglich gehalten, dass diese »Redereien« Folgen haben würden. Kammrad fragte: »Vielleicht hast du auf den Klub geschimpft, hast gesagt, dass du weg willst und dabei zweideutig gesprochen.« Sommer entgegnete: »So könnte es gewesen sein.« Es blieb dabei, dass Sommer nicht mit nach Italien reisen durfte. Während er niedergeschlagen zum Essen ging, teilte Kammrad der Mannschaft die Entscheidung mit. In den Akten ist die Skepsis der Mitspieler festgehalten. Ein Spieler habe nur gelächelt, ein anderer gesagt: »Jetzt steht Meinung gegen Meinung.«

Die Anordnung: sofortige Ausbootung des Spielers

Die meisten Spieler sagen heute, sich nicht mehr an die Vorgänge erinnern zu können. Manche erklären, zum ersten Mal davon zu hören. Sie haben noch keine Akteneinsicht beantragt, wollen mitunter auch gar nicht erst erfahren, wie sie ausgespäht worden sind – und von wem. Stürmer Martin Hoffmann sagt immerhin über seinen ehemaligen Mitspieler Sommer: »Bodo gehörte nicht so oft zur Stammelf, vielleicht wollte man an ihm ein Exempel statuieren.«

Die Entscheidung für Sommers Ausbootung wurde endgültig auf anderer Ebene gefällt: Am 24. September teilte der Bezirksleiter der SED dem Klubvorsitzenden mit, dass Sommer im Förderkader des Klubs bleibe und nicht nach Italien ausreisen dürfe. Fünf Tage später verlor Magdeburg zwar in Cesena mit 1:3, zog aber in die nächste Runde des Europapokals ein. Im Viertelfinale gegen Juventus Turin kam Sommer zum Einsatz, allerdings nur in Magdeburg, nicht in Italien. In der Rückrunde 1976/77 absolvierte er noch neun Ligaspiele, bevor er im Sommer den Verein verließ – in die zweite Liga.

Bodo Sommer will nun die Vergangenheit ruhen lassen und nicht mehr über das Thema sprechen. Er war nicht der Einzige, der ins Visier der Stasi geriet. Ein Jugendspieler wurde aus dem Leistungszentrum »ausdelegiert«, da seine Eltern Verbindungen zu Verwandten und Bekannten in der BRD verschwiegen hatten. Ein anderer musste sich gegenüber Kammrad rechtfertigen, weil seine langjährige Freundin einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt hatte. »Ich machte ihr klar, dass ich mich dann von ihr trennen müsse (…)«, steht in einer Erklärung des Spielers.

Im Abschlussbericht der Stasi von 1981 heißt es, Kammrad habe bei drei Überwachungen von Personen mitgeholfen. Er soll jedoch keine Hinweise gegeben haben, die operative Vorgänge einleiteten. Mit anderen Worten: Die Stasi trat mit Verdachtsfällen an Kammrad heran, er selbst lieferte dem Dienst keine weiteren Namen.

Kammrad selbst wurde kritisch von der Stasi beäugt, wenn er mitunter offen mit den Vertretern der BRD-Mannschaften umging und sich ihren Gastgeschenken gegenüber nicht abgeneigt zeigte. Beim Auswärtsspiel der Magdeburger im Europapokal auf Schalke überreichten die Gelsenkirchener Kammrad und anderen FCM-Offiziellen einen Kassettenrekorder. Kammrad soll den Rekorder angenommen haben, obwohl die Delegation des DDR-Fußballverbandes es untersagt hatte.

Auch in Aufstellungsfragen konnte Kammrad den Einfluss der Stasi mitunter minimieren. Vor einem Spiel gegen Braunschweig schrieb er davon, einen Hinweis durch den Offizier des MfS erhalten zu haben, zwei Spieler »nach Möglichkeit bei dem Spiel nicht einzusetzen«. Kammrad bekräftigte aber, dass beide »das volle Vertrauen des Klubvorsitzenden und des Trainers besitzen«.

Der Mannschaftsarzt stoppt den Torwart mit einer Injektion

Im Jahr 1981 wurde Kammrad Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung. Damit endete seine zweite Tätigkeit als IM nach fünf Jahren. Bis zum Artikel des »Focus« blieb sie der breiten Öffentlichkeit verborgen, viele der Magdeburger Spieler zeigen sich überrascht von den Veröffentlichungen über ihren damaligen Vereinschef. Doch das gilt nicht für alle Mitarbeiter des Vereins. Bernd Tiedge, der langjährige Geschäftsstellenleiter, war lediglich erstaunt über den Zeitpunkt der Veröffentlichungen. Die Mitarbeit Kammrads für die Stasi sei ihm schon seit gut zehn Jahren bekannt, sagt er, auch wenn er nicht mehr genau wisse, woher er davon erfahren habe.

Viele Aktive aus den siebziger Jahren raunen von weiteren Stasi-Zuträgern – ohne konkrete Beweise. Sie bezweifeln, dass Kammrad der einzige Spion im Verein gewesen sei. Im Schlussbericht des MfS über ihn steht: »Er sicherte weiterhin die Geheimnisträger im Klub«. Zumindest ein weiterer Stasi-Spitzel der Magdeburger ist bekannt: Der mittlerweile verstorbene Mannschaftsarzt Hans-Werner Wallstab arbeitete als »IM Hans Stock« ebenfalls für die Staatssicherheit. Im Jahr 1986 setzte er den Ersatztorwart Uwe Bardick mit einer Injektion außer Gefecht, damit dieser nicht zum Auswärtsspiel nach St. Gallen reisen konnte (11 FREUNDE #116).

So bleibt für die Spieler des 1. FCM bis heute Ungewissheit, inwieweit die Stasi auch auf ihre Karrieren Einfluss genommen hat. Die Magdeburger Fußballlegende Wolfgang Seguin sagt: »Auch ich habe mich gefragt, ob bei meinem Abschied mehr dahinter steckte. 1981 hatte ich 26 Pflichtspiele bestritten und musste gehen – welche sportlichen Gründe soll das gehabt haben?«

Die Frage für ihn und andere Spieler der damaligen Zeit war nicht, ob die Stasi Spitzel im Fußball einsetzte, sondern eher wie. Seguin sagt: »Jeder, der damals Fußball gespielt hat, wusste, was los ist.«