Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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Investigation Reportage

Über das Spiel zum Kampf

Neonazis rekrutieren ihren Nachwuchs in Fanszenen. Wie geraten Jugendliche über den Fußball in den Rechtsextremismus? Drei Aussteiger erzählen
(siehe Multimedia-Seite: aussteiger.11freunde.de)

Illustration: Florian Bayer

L ars Bleichert* spürt das Blut durch seinen Körper rasen. Doch er unterdrückt jede Bewegung, er will sich nichts anmerken lassen. Der 14-Jährige sitzt in einem Kleinwagen in der Mitte der Rückbank, zwei ältere Jungs neben ihm blicken aus dem Fenster in die monotone Dorflandschaft. Es ist stickig. Der Fahrer und der Beifahrer, zwei stämmige Gestalten, reden wenig. Die fünf Ultras sind auf dem Weg zu einer angemieteten Turnhalle, um dort Fahnen für ihren Verein zu bemalen. Allein die Anfahrt sorgt bei Bleichert, einem dürren Schuljungen, für einen Adrenalinschub. Er ist noch nicht lange Mitglied der Ultragruppe, solche Treffen verströmen den Reiz des Verbotenen. Dann legt der Fahrer eine CD ein, schwere Gitarrenriffs, lauter Schlagzeugbeat, aus der Box hinter Bleichert röhrt:

Seid ihr gut genug für uns?
Dann können die Spiele beginnen!
Wir, die Germanen, werden alles geben,
um zu gewinnen!

Neben Bleichert protestiert einer der Mitfahrer gegen die Musik. Sie stammt von der bei Rechtsextremen beliebten Band Kategorie C. Der Fahrer dreht sich um und erstickt den Protest mit einem durchdringenden Blick. Bleichert packen der Rhythmus, der Gesang und auch die Aggressivität des Liedes. Direkt nach dem Treffen in der Turnhalle fährt er schnell nach Hause, rennt die Stufen zu seinem Kinderzimmer hoch und lädt die Musik der Band herunter. Er hastet wieder vor die Tür, schiebt sich die Kopfhörer während des Laufens ins Ohr. Bleichert stürzt sich auf sein Fahrrad.

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Ich fuhr einfach los, durch die Gegend, die Musik im Ohr. Ich grölte laut mit, während ich im Stehen wie wild in die Pedale trat. Wer auch immer mich in diesem Moment gesehen hat, muss mich für einen Wahnsinnigen gehalten haben. Ich war wie besessen, wie ein Gorilla auf Testosteron.

An jenem Tag vor gut zehn Jahren kam Lars Bleichert zum ersten Mal in Kontakt mit Personen aus der rechtsextremen Szene. Sie tummelten sich unter den Ultras, obwohl die Gruppe selbst nichts mit ihrer Gesinnung zu tun hatte. Bleichert erzählt heute so detailreich von den Momenten dieses Tages, als hätte er sie erst gestern erlebt. Sein Weg führte in der Folge mehr und mehr in den Extremismus, er wurde Mitglied der „Autonomen Nationalisten“, einer seinerzeit neu formierten militanten Gruppe innerhalb der Naziszene. Das Treffen beim Fußball war sein Einstieg – wie bei vielen anderen Fans. Nazis mögen sich in den Stadien heute nicht mehr so offen zeigen wie noch in den neunziger Jahren, doch sie agitieren weiterhin im Umfeld. Sie rekrutieren im Fußball ihren Nachwuchs.

Die Zentrale Informationsstelle für Sporteinsätze (ZIS) hat im Jahre 2016 abgeglichen, wie viele der laut ihren Akten straffällig gewordenen Fußballfans bereits rechte Straftaten begangen haben. Es sind 360 Personen – wahrlich keine geringe Zahl. Michael Gabriel von der Koordinationsstelle der Fanprojekte (KOS) sagt einschränkend: „Es ist unklar, welche exakten Parameter die ZIS anlegt. Jemand, der zum Beispiel ein Thor- Steinar-Shirt trägt, wird nicht in diese Statistik mit einbezogen. Die genannten 360 Personen sind allenfalls die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer liegt viel höher.“ Eine Zahl der Bundesregierung stützt das. 735 Personen der Datei „Gewalttäter Sport“ tauchen auch in Dateien zu rechten Straftaten auf.

Wie gelangen Jugendliche über den Fußball in den Rechtsextremismus? Drei Aussteiger erzählen ihre Geschichten. Zwei kommen aus einem Bundesland im Westen, einer aus dem Osten der Republik. Sie sind zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, waren jahrelang Mitglieder in organisierten Neonazigruppen. Zum Schutz ihrer Identität wurden ihre Namen geändert, sie fürchten Vergeltung. Zwei von ihnen ließen sich von Aussteigerorganisationen begleiten, Bleichert floh aus der rechtsextremen Szene in ein Nachbarland.

Von Kategorie C zu Sleipnir – Musik als Triebfeder

Bleichert trägt Kontaktlinsen, dunkles Shirt und Jeans, keine Tattoos oder Piercings. Er sieht eher aus wie ein Sprecher der Studentenvertretung, ein durchaus charismatischer, schmaler Mann Ende zwanzig. Bleichert kann sich gewählt ausdrücken. Seine Geschichten aus der Vergangenheit hingegen wirken wie von einem Fremden erzählt, sie handeln von allgegenwärtiger Gewalt, von Mordphantasien, vom Endsieg der arischen Rasse. Er erzählt sie mehrere Stunden lang in einem Café, ohne Pause.

Nach dem Treffen in der Turnhalle engagierte er sich weiter in der Ultragruppe, fuhr zu fast allen Heim- und Auswärtsspielen. Jede Fahrt wirkte wie ein Ferienausflug, für ihn war es der Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Als Bleichert mit anderen Jungs an einer Choreografie arbeitete, brachte sogar ein hochrangiger Vereinsvertreter zum Dank eine Kiste Bier vorbei. Den stämmigen Fahrer des Kleinwagens traf er nur hin und wieder persönlich, doch die beiden hielten über einen Chat den Kontakt. Er schickte Bleichert ein Lied der rechtsextremen Band Sleipnir. Bleichert gefiel die Musik, auch wenn diese Band noch unverhohlener ihre Nazi-Ideologie herausschrie. Er knüpfte Kontakte zu Usern des Forums der Gruppe, nur zwei Wochen später verabredeten sie sich zu ersten Treffen. Bleichert erklärte seinen Eltern, er würde zu Fußballspielen fahren. In Wirklichkeit traf er sich mit Leuten, die mit dem Spiel rein gar nichts verband. Wenn er betrunken war, sang er jetzt häufiger von Deutschland als von seinem Lieblingsklub.

Die Band Kategorie C agiert als „Bindeglied zwischen rechtsextremistischer und Hooligan-Szene“, so teilt es das Innenministerium auf eine Anfrage der Linkspartei mit.

Hools aus ganz Deutschland reisten zu den Konzerten an, die verfeindeten Fanlager standen nebeneinander und sangen gemeinsam. Zwischen den Liedern riefen sie: „Frei – sozial – national“ oder „Hier marschiert der nationale Widerstand!“ Ich lief durch die Reihen und sah überall erhobene rechte Arme. Bei einem Gig in Holland gab es orange Fähnchen zu kaufen. Darauf stand klein „Hup, Holland“ und in großem Druck eine Zahl: 88 (ein Code für „Heil Hitler“).

Die neuen Freunde aus dem Netz redeten auf Bleichert ein. Sie stilisierten die Musiker zu mutigen Helden, die unbequeme Wahrheiten aussprechen. Für Bleichert und die beiden anderen Aussteiger war die rechtsextreme Musik entscheidend für ihren Einstieg. Wie im Fußball trennten die Texte klar zwischen Freunden und Feinden. Wir gegen die anderen, wir gegen die Polizei. Rechtsradikalismus erscheint in den Liedern als Rebellion gegen das herrschende System. Die Faszination für die geheimen Rituale der Ultras wich jener für die scheinbar subversiven Nazimusiker.

Bei den Ultras hatte ich das Gefühl, dass jeder Einzelne für etwas Größeres kämpfte, für die Stadt, für den Verein, eben auch für unsere Gruppe. Doch dann überlagerte die Politik diese Leidenschaft für den Fußball. Sprich: in meinen Augen der Kampf für eine noch größere Sache, die Revolution. Warum nur für einen Verein kämpfen, wenn du eigentlich für ein unterdrücktes deutsches Volk kämpfen solltest?

Rechtsextreme besetzen die
Themen der Ultraszene

Rechtsextremisten interessieren sich für die Mitglieder der Ultraszene, eine der größten Jugendkulturen Deutschlands – und wollen dabei deren Themen für ihre Zwecke besetzen. Der Berliner Spitzenkandidat der NPD posierte mit Plakaten, auf denen stand: „Pyrotechnik nicht kriminalisieren – Fankultur erhalten“. Allerdings verläuft die Rekrutierung im Fußball sowieso häufig subtiler. Rechtsextreme übernehmen Themen wie die Kommerzialisierung des Fußballs und münzen sie in Globalisierungskritik um. Sie verwenden Begriffe und Sätze aus dem Ultraspektrum, in denen es um „Ehre“, „Tradition“ oder „die eigene Stadt“ geht. Die offen nazistische Propaganda der NPD hat seltener Erfolg als Kameradschaften, die ihre Agenda weniger offensichtlich vermitteln. Sie passen nicht nur ihre Sprache, sondern auch die Kleidung an die Ultrakultur an. Für den Aussteiger Lars Bleichert war so der Übergang von der Fanszene zu den „Autonomen Nationalisten“ zumindest optisch fließend.

Ich musste meinen Kleidungsstil nicht großartig ändern. Viele Rechte liefen zu dieser Zeit rum wie eine Mischung aus Ultra und Spießer, mit Windbreaker und gleichzeitig Zimmermannshose. Die Naziszene orientierte sich vom Auftreten her bei Fußballfans, aber auch bei den Linken.

Bleichert zog in eine Wohngemeinschaft mit anderen Nazis. Unter der Woche wurde viel getrunken, an den Wochenenden wartete durchstrukturiertes Programm: Liedermacherabende, Rechtsschulungen in Hinterzimmern von Kneipen und Blocktrainings auf Fußballplätzen. Er selbst schrieb lange Manifeste und Briefe, unterzeichnet mit „Heil Hitler“. In den damaligen Aufrufen zu Demos und Flugblättern lässt sich nachlesen, wie Bleichert seine Kameraden anstiftete: Er spricht vom Kampf „für ein Deutschland des deutschen Volkes und ein Europa der weißen Rasse“. In Chatprotokollen fordert er sie zum Verzicht auf Alkohol und Drogen auf, zur Enthaltsamkeit zum Wohle der arischen Rasse, von deren Endsieg er in Kampfbriefen fabuliert. Bleichert besuchte auch Hardliner- Veranstaltungen der verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Der Alltag in der rechtsextremen Szene war durchsetzt von Gewalt, erzählt er, Konfrontationen wurden auch untereinander handfest ausgetragen. Bedrohungen und Schläge gehörten zum Alltag.

Bleichert stammt aus bürgerlichen Verhältnissen, besuchte das Gymnasium. Er hatte früher nie jemanden geschlagen, nie mit der Polizei zu tun gehabt. Bis zu seinem Eintritt in die Naziszene. Was sich Bleichert selbst erst später eingestand: Er war schon immer fasziniert von Gewalt. Je roher, desto besser. Auf einer Nazidemo spürte er wieder sein Blut rasen, Polizei überall, Wasserwerfer, eine aufgeputschte Menge. Dann schallte ein Ruf. „Los!“ Bleichert riss mit anderen Nazis Bauzäune ein, um auf ein Ödland zu laufen. Erst in diesem Moment erkannte er einen Fotografen der Antifa, der unweit auf einem Sandhaufen saß.

Einer von uns blieb vor ihm stehen und schwang den Arm in die Luft. Die Sonne stand tief, der Sandhaufen war fünfzehn Meter von mir entfernt. Doch ich erkannte, was der Typ in seiner Hand hielt. Einen Pflasterstein. An dieser Stelle stockt Bleicherts Stimme. Er trinkt einen Schluck Wasser. Der Arm fiel schnurgerade herunter. Der Stein traf den Fotografen mitten im Gesicht. Pause. Bleichert erstarrt bei der Erinnerung. Ich hatte Panik. Und habe gleichzeitig den Moment gefeiert. Der Fotograf überlebte mit schweren Verletzungen.

Hools, Nazis und Rocker

Auf diesen Effekt setzen Rechtsextreme: Sie tolerieren Gewalt als Mittel für ihre Ziele. Sie suchen Mitläufer, die von der Gewalt fasziniert sind – wie Bleichert. Oder eben solche, für die Gewalt sowieso zum Alltag gehört – wie Thomas Pientek*, auch er ein Aussteiger. Er testete die Grenzen, suchte den Kick des Verbotenen. Erst beim Fußball, dann in der organisierten Naziszene. Pientek hat kurz geschorene Haare, trägt eine Jogginghose, die über den Knien endet, schwarze Turnschuhe. Seine Sätze sind kurz, aber prägnant. Pientek ist weniger aufgekratzt als Bleichert, spult sein Leben in einer trockenen Erzählung ab. Die Augenpartie sticht aus seinem eigentlich jugendlichen Gesicht heraus und lässt ihn älter erscheinen, als er tatsächlich ist.

Pientek zählt aber erst zwanzig Jahre, er ist gerade dem Teenageralter entwachsen. Momentan läuft noch seine mehrjährige Bewährungsstrafe. Seine Polizeiakte ist dick. Drogenhandel, Internetbetrug, schwere Körperverletzung, illegaler Waffenbesitz. Pientek lebte in seiner Jugend viele Jahre im Heim, weil seine Mutter mit den Ausbrüchen ihres Sohnes nicht mehr umzugehen wusste. Seinen Vater hat er damals nie gesehen, dafür umso häufiger den Jugendrichter. Die Wohnorte wechselten, das einzig Stete waren die Stadionbesuche. Anfangs hatte ihn noch sein Onkel mitgenommen, im Alter von zwölf Jahren ging er alleine in die Fankurve. Heute sagt er: in den falschen Block. Pientek traf auf eine Ultragruppe, die die Rechtsradikalen unter ihren Mitgliedern zumindest duldete. Doch davon bekam er beim ersten Kontakt noch nichts mit.

Ich fand das großartig, mit den Älteren rumzustehen und zu trinken. Ich hatte vorher noch nie von ihrer Gruppe gehört, doch nach einiger Zeit kennt man sich eben. Dann kam beim zweiten Bierchen die Frage: Willst du nicht bei uns mitmachen? Ich war gerade 14 und sie brauchten mich, um Pyrotechnik reinzuschmuggeln. Die Jüngeren wurden beim Einlass nicht so stark kontrolliert, also habe ich es gemacht.

Pientek wurde innerhalb weniger Monate ein vollwertiges Mitglied in der Gruppe, vor allem aufgrund seiner Skrupellosigkeit. Beim Weg zum Stadion gehörte er jenem Trupp an, der sich aus der Menge und damit dem Visier der Polizei absetzte. Er und die anderen stiegen in Autos, die sie zur gegnerischen Fangruppe brachten, meistens bei deren Ankunft am Bahnhof. Das Schema war immer gleich: Erst schrien und pöbelten sie, dann schmissen sie Flaschen, bevor es eskalierte. Normalerweise musst du dich überwinden, jemanden den Schal zu zocken oder draufzuschlagen. Ich hatte aber da schon kein Schamgefühl mehr, mir war das egal. Ich wurde gefragt, ob ich das mache. Und dann habe ich den Älteren halt diesen Gefallen getan.

Er spricht lapidar von einem „Gefallen“, er habe sich „nützlich“ gemacht. Harmlose Begriffe. Für ihn sind sie jedoch bedeutsam. Er konnte sich profilieren. Die Führungsriege der Ultragruppe war gleichzeitig mit einer neonazistischen Kameradschaft verstrickt. Bei anstehenden Demos fragten sie Pientek, ob er vorne mitlaufen könne. Das hat Methode: Wenn straffällige Fans von den Vereinen mit Stadionverboten bestraft werden, offerieren ihnen Nazis eine neue Gemeinschaft. Auch aus diesem Grund kritisieren Fanprojekte die rigide Stadionverbotspraxis. Sie setzen sich unter anderem für Bewährungsstrafen ein, um die Jugendlichen weiter an die Fangruppe zu binden und sie nicht an extremistische Gruppen zu verlieren.

Anlass für den Ausstieg: eine Drogenrazzia

Für gewaltbereite Fans wie Pientek bieten Demos der Rechtsextremen die Möglichkeit für „Action“, für Schlägereien, für Wettläufe mit der Polizei. Auch bei der Randale der „Hooligans gegen Salafisten“ in Köln hat er später mitgemischt. Eine ausgeprägte rechtsextreme Ideologie vertrat Pientek damals nicht, erzählte nicht vom „Dritten Reich“ oder der „weißen Rasse“. Anders als Bleichert war er kein Typ für Manifeste. Doch er verspürte einen tiefsitzenden Hass auf Migranten. Über zwei Jahre bewegte er sich immer im gleichen Personenkreis, mit rechtsoffenen Hooligans und rechtsextremen Agitatoren aus der Kameradschaft. Der Weg aus diesem festen Personenkreis ist sehr schwierig, betonen Aussteigerorganisationen wie NinA NRW , die auch ehemalige Nazis aus der Fußballszene betreuen. Die meisten hätten die Kontakte zu Familie und Freunden abgebrochen, ihre einzigen persönlichen Bindungen funktionierten ausschließlich über das rechtsextreme Milieu. Bleichert stieg nicht von einem Tag auf den anderen aus, es dauerte Monate. Er zweifelte zusehends die Ideologie an und wollte dem Alltag aus Gewalt und Einschüchterung entfliehen. Pientek hingegen plagten weniger Zweifel an seinem Lebensstil, er wurde aus seinem Umfeld gezwungen. Zunächst floh er aus Angst vor einer Drogenrazzia in eine andere Stadt und zog zu einer Freundin. Mit ihr bekam er wenig später einen Sohn. Um eine Anklage kam Pientek nicht herum, wenig später verurteilte ihn ein Gericht wegen Drogenhandels zu neun Monaten Haft auf zwei Jahre Bewährung. Als Vater, mit 19 Jahren, sah Pientek die Bewährung als Chance, mit seinem bisherigen Leben komplett zu brechen. Bis heute hat er den Kontakt in seine Heimatstadt gekappt. Er geht nicht mehr zu seinem Verein, sondern verfolgt die Spiele nur noch am Liveticker oder in der Kneipe. Momentan absolviert er eine Ausbildung auf dem Bau, er muss nun ausreichend Geld verdienen. Die sieben Auflagen des Gerichts, unter anderem die Teilnahme an einem Aussteigerprogramm, hat er erfüllt.

Ich weiß nicht, ob ich noch mal rückfällig werde. Aber ich bin auf einem guten Weg. Ich habe gehört, dass meine damaligen Freunde vom Fußball entweder im Knast sitzen oder in der Türsteher- und Rockerszene unterwegs sind. Wäre ich nicht Vater geworden, weit weg in einer anderen Stadt, wäre ich wohl auch so drauf.

Beliebte Treffpunkte sind Events
wie der „Kampf der Nibelungen“

Fanbeobachter sprechen in Deutschland immer häufiger von einer Mischszene aus Hooligans, Neonazis und Rockern. In Cottbus beispielsweise stimmte die Gruppe „Inferno“ immer wieder rechtsextreme Gesänge an und bedrohte andere Fans. Ihre Mitglieder unterhielten einem Bericht der „Potsdamer Neuen Nachrichten“ zufolge Verbindungen in die Rockerszene. Beim Auswärtsspiel in Babelsberg im April versuchte die Gruppe, den Platz zu stürmen. Sie sangen: „Arbeit macht frei – Babelsberg 03“. In Aachen jagten Mitglieder der rechtsoffenen Ultragruppe „Karlsbande“ die antifaschistischen „Aachen Ultras“, bis diese dem Stadion fernblieben. Führungsleute der „Karlsbande“ agierten in der verbotenen rechtsextremen „Kameradschaft Aachener Land“. Die Hooligans organisierten sich in der „Westfront Aachen“, die nicht nur Kontakte in die Naziszene, sondern auch zu den Hells Angels gepflegt haben soll. Derartige personelle Überschneidungen bestehen auch an anderen Fußballstandorten wie Leipzig oder Frankfurt.

Beliebter Treffpunkt sind Events wie der „Kampf der Nibelungen“, bei dem sich rechte Kampfsportler aus ganz Deutschland und auch aus dem Ausland messen. Mit dabei sind auch Hooligans aus Köln, Bielefeld oder Dortmund, zu denen einer der Sponsoren gute Kontakte pflegt. Denis Nikitin betreibt eine rechtsextreme Kleidungsmarke in Russland und trainiert Nazis in Italien, der Schweiz und England. Die Bundesregierung schrieb auf eine Anfrage der Grünen: „Der ,Kampf der Nibelungen‘ ist nicht nur die wichtigste, sondern nach derzeitigem Erkenntnisstand die einzige Kampfsportveranstaltung im rechtsextremistischen Spektrum.“ Für viele Beobachter ist die Verquickung von Hools, Nazis und Rockern logisch. Die Mitglieder der Szenen eint ein archaisches Männlichkeitsbild, in ihrem „Bund von Brüdern“ verherrlichen sie Gewalt und verachten das System.

„Rocker und Nazis suchen ihren Nachwuchs bei Leuten, die den Staat ablehnen und ihr eigenes Gewaltmonopol organisieren“, sagt der Sozialwissenschaftler Robert Claus. „Und wo liegen die größten Felder für ihre Rekrutierung? In den rechten Spektren der Kampfsportwelt sowie den rechten, gewaltbereiten Teilen der Fanszene.“ Bleichert und Pientek ließen sich in die Naziszene ziehen, doch wie denken Rechtsextreme, die Fußballfans aktiv anwerben?

Wo ist unsere Stimme?

In einem hellen, aufgeräumten Büro in Ostdeutschland sitzt Frank Seidelt*, er kennt die Mechanismen in diesem Milieu. Seidelt ist der dritte Aussteiger, ein sportlicher, vierzig Jahre alter Mann mit kantigen Gesichtszügen, er trägt Shirt und Sneaker. Auch er spricht lange, mit wenig Pausen, doch weniger emotional als Bleichert, sondern klar und sachlich. Er blickt seinem Gegenüber genau in die Augen. Er erwähnt Namen, dann Hoolgruppen, Szenelokale, dann geht es hin zu Parteien und Kameradschaften, er zieht Querverbindungen zwischen Fußball und Naziszene. Es ist, als würde er von oben auf eine Karte schauen und ein großes Organigramm entwerfen. Seidelt kann ein bundesweites Netzwerk aufzeichnen. Er trat bereits in den neunziger Jahren in die rechte Szene ein. Im Fanblock hatte er ältere Fans kennengelernt, die ihn an spielfreien Wochenenden zu geheimen Treffen mitnahmen. Dort fühlte er sich beschützt. Er, damals erst 15 Jahre alt, saß mit martialisch wirkenden Hooligans zusammen. Seidelt musste oft den Lockvogel geben: Passanten oder linksalternative Jugendliche provozieren und sie damit zu den Verstecken seiner Mitstreiter treiben. Dann schlugen diese drauf los. Es ging ihnen um eine Demonstration der Macht. Seidelt stieg in seinen Teenagerjahren schnell innerhalb der Naziszene auf, vom Mitläufer zur Führungsperson einer Kameradschaft. Ihr klarer Auftrag lautete, Jugendliche anzuwerben – so wie es bei ihm funktioniert hatte. Gleichzeitig war er auch im Auswärtsmob seines Vereins inzwischen ein bekanntes Gesicht und nutzte diese Stellung:

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Von wegen ostdeutsches Problem: Auch bei Westklubs gehören Nazis auf den Rängen zum Inventar, zahllose Übergriffe und Straftaten sind dokumentiert. Die rechte Szene drängt zurück an die Macht.

Für uns war der Fußball entscheidend für den Erstkontakt, gerade bei Auswärtsspielen. Wenn du dir einen Namen gemacht hast, dann zeigst du Präsenz. Dann sprichst du die Leute an, die oft dabei sind. Erst einmal quatschst du mit ihnen nur über Fußball, dann irgendwann fragst du: „Bist du nicht auch unzufrieden mit dem System in Deutschland?“ Und nach einer Zeit lädst du die Leute zu einem Treffen ein. Das klingt plump – aber gerade die Jugendlichen haben damit angegeben, wenn sie uns kannten, wenn sie zu uns kommen durften. Wir standen in der Hierarchie oben.

Sie veranstalteten „nationale Fußballturniere“, Schnitzeljagden oder Wanderungen. Seidelt und seine Mitstreiter wollten Jugendliche zunächst über Freizeitangebote binden. Dabei verloren sie anfangs kein Wort über das Dritte Reich. Ihre Erzählung definierte sich über Feindbilder. Gemäß dem Motto: „Werde aktiv gegen das politische System. Die Zecken, die Bullen, die Politiker unterdrücken dich!“ Seidelt sagt, er habe einen SMS-Verteiler mit 120 Namen von Jugendlichen besessen.

Mit vielen von denen konnte man später überhaupt nicht ideologisch arbeiten. Aber bei einer Kundgebung brauchten wir auch mal schnell fünfzig Leute, es ging uns um Macht, um das Zeichen: Wir haben die Jugend!

Seidelts Kameradschaft überfiel regelmäßig Jugendclubs, bewaffnet mit Stöcken und Schlagringen. Für sie waren die Sozialbetreuer ganz klare Gegner aus dem linken Lager. Er besuchte Gesinnungskollegen in angrenzenden Bundesländern, wenn vor Ort Spiele gegen Mannschaften mit linksalternativer Fanszene wie Babelsberg, Roter Stern Leipzig oder den FC St. Pauli anstanden. Sie köderten gewaltbereite Fans nicht mit komplexer Ideologie, sondern mit der bloßen Aussicht auf „Action“. Wenn Seidelt heute über die Attacken spricht, wischt er sich mit der Hand vor dem Gesicht. Ihr Spruch lautete: „Zeckenklubs haben beim Fußball nichts verloren, mit ihrer Scheißpolitik!“ Diesen Widerspruch hinterfragte niemand. Auch er damals nicht.

„Das sind doch keine Nazis, das sind echte Fans“

In den Augen vieler alteingesessener Hoolgruppen stehen antirassistische Ultras für linke Politik. Die Konflikte zwischen beiden Szenen um die Deutungshoheit und den Machtanspruch in den Fanszenen eskalierten. In Bremen, Dortmund, Aachen oder Braunschweig wurden sie mit den Fäusten ausgetragen. Erst im Juni sangen rechte Duisburger Alt-Hools beim Spiel gegen Rot-Weiss Essen „Zick-Zack-Zigeunerpack“ und griffen die eigene Ultragruppe „Kohorte“ im Block an. Anders als in Italien oder Osteuropa distanziert sich eine Vielzahl deutscher Ultragruppen von Rechtsextremen. Sie zeigen klare Botschaften gegen Nazis auf Choreografien und Flyern, sie verbannen Fans mit Thor-Steinar-Shirts aus dem Block. Ultragruppen leisten mitunter eine unterschätzte Sozialarbeit. Jugendliche wollen einer Gruppe angehören und sich dadurch abgrenzen. Wenn sie das beim Fußball nicht finden, besteht die Gefahr, dass sie ihren Kick woanders suchen. Und bei Extremisten landen.

Dabei wird kein Fan zwangsläufig durch den Fußball vom Linken zum Nazischläger. Die drei Aussteiger zog etwas an: Bleichert suchte die Rebellion, Pientek die Anerkennung, Seidelt eher den Schutz der Älteren und die Gemeinschaft. Die einzelnen Beweggründe und Verstärker ihres Einstieges waren verschieden, doch eines haben sie alle gemein: Niemand aus ihrem Umfeld konnte oder wollte sie noch von ihrem Weg abhalten. Im Stadion wurden ihre Ansichten toleriert, weil sie in erster Linie als „echte Fans“ ihres Klubs angesehen wurden. Für die drei ist klar, dass jedes Statement von aktiven Fangruppen gegen Rassismus Wirkung zeigen kann. Weg von dem leeren Mantra der Kurven: Politik ist Politik und Fußball ist Fußball. Etablierte Fans im Block seien für die Jugendlichen, so sagen es die drei Aussteiger, vor allem eines: die einzigen respektierten Autoritäten.

Seidelt reist heute mit seinem Verein auch wieder zu Auswärtsspielen. In der vergangenen Saison fuhr er mit dem Zug zu einem Spiel, die Polizei erwartete die Menge am Bahnhof. Nach kleinen Reibereien setzte sie Pfefferspray ein. Seidelt erkannte einen Jugendlichen, der sich mit Wasser das Spray aus den Augen spülte. Danach schaute er Seidelt an und sagte, dass die „Bullen komplett durchgedreht“ seien. Niemandem könne er das erzählen, weil die Medien sowieso nur von Randale der Fans schreiben würden. „Wo ist denn unsere Stimme?“, fragte der Jugendliche. Zunächst dachte Seidelt sich nicht viel bei der Wutrede seines Gegenübers, doch auf der Rückfahrt holte ihn seine Vergangenheit ein.

Ich höre immer wieder: „Wo ist unsere Stimme?“, „Krieg dem DFB!“, „Ihr nehmt uns den Fußball weg!“ Das ist das Futter für die Extremisten. In meinem alten Leben wäre ich genau auf diesen Jugendlichen beim Auswärtsspiel zugelaufen und hätte ihm klar gemacht: Vertrau uns. Wir sind deine Stimme!