Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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England Porträt Reportage

Wie ein Verein elf Jahre auf ein Tor wartete

In 308 Spielen schoss Evertons Tony Hibbert kein einziges Tor. Die Fans riefen: Wenn er trifft, rasten wir aus! Dann kam der 8. August 2012

Die Empfangshalle des FC Everton ist eigentlich nur ein winziger Durchgangsraum. Bis auf einen silbernen Pokal hinter einer Scheibe schimmert hier, im Erdgeschoss des glorreichen Stadions Goodison Park, nirgendwo der Glamour des englischen Profifußballs durch. Ein Bauarbeiter von der Straße schlendert durch die Drehtür zum Klo, ein Bäcker rempelt eine Art Teewagen über den Linoleumboden, ein Jugendbetreuer im Trainingsanzug gammelt vor dem Fernsehgerät herum. Dann steht ein Mann mit kleiner, aber durchtrainierter Statur im Eingang, die dunkelgrüne Herbstjacke bis zum obersten Knopf geschlossen. Er nickt ausdruckslos in die Runde und könnte problemlos für den Pförtner gehalten werden. Hey, mate! – What’s up, Tony? Dieser Tony schreitet durch den Raum, und wie es so ist, verraten die Bewegungen immer die ehemaligen Fußballer, die kurzen Trippelschritte, der leicht vorgebeugte Oberkörper. 

265 Spiele für Everton – nie ein anderer Klub 

Tony Hibbert hat 265 Spiele in der ersten englischen Liga absolviert, tausend Mal trainiert, abertausende Trippelschritte gemacht – und jeden einzelnen für den FC Everton. Im Jahr 1990 trat er dem Klub als Kind bei, im Jahr 2001 bestritt er sein erstes Spiel für die Profis, und im Jahr 2016 beendete er hier seine Karriere. Ein Klub, ein gesamtes Fußballerleben lang. Hibbert fühlt sich hier im schmucklosen Durchgangsraum wohl, er kennt sie alle, egal ob sie Trainingsanzug oder Baustellenweste tragen, und sie kennen ihn. Hibbo is a legend.

 Er muss dann auch gleich allen erklären, was dieses deutsche Magazin von ihm will. „Sie schreiben etwas über mein Tor“, sagt er. Und von der Seite kommt postwendend: „Oh, von welchem?“ Der ganze Raum grinst, Hibbert mit ihnen. Jede Legende hat auch hier das Recht darauf, ordentlich verarscht zu werden. Denn Hibbert hat nur ein einziges Tor in seiner Karriere geschossen. In 329 Pflichtspielen, inklusive Pokal. Er kam nur ein weiteres Mal in die Nähe, ein Pfostentreffer, der von den Fans wie ein Weltwunder gefeiert wurde.

Als Hibbert über zehn Jahre hinten rechts in Evertons Mannschaft alles abgeräumt hatte, verselbständigte sich seine Torflaute zum Mythos. Die Fans pilgerten zu jedem Spiel, denn ein Fernbleiben hätte fatale Folgen haben können. Was, wenn Hibbert heute trifft, und du bist nicht im Stadion? Oder eine andere simple Frage: Was machen wir eigentlich, wenn Hibbert mal trifft? Die Antwort pinselten die Fans auf ein Banner und hängten es im Stadion auf: When Hibbo scores, we riot. Wenn Hibbert trifft, rasten wir aus. Vor der Saison 2012/13 bestritt Everton ein Testspiel gegen AEK Athen, es sollte ein ganz normales Vorbereitungsspiel werden, bestimmte Trainer David Moyes. Der Verein aber gab es als Testimonial, als Jubiläumsspiel für Tony Hibbert aus, nach zehn Jahren treuer Dienste für Everton. Ein lauwarmer Augustabend, ein internationaler Gegner, im Goodison Park knipsten sie das Licht an. Es wurde ein denkwürdiges Spiel.

Schon nach ein paar Minuten zusammen mit Tony Hibbert an einem Tisch im Stadioninnern versteht man seine Popularität. Hibbert hat diesen Blick, der eine gewisse Unerschütterlichkeit gegenüber den Aufgeregtheiten da draußen ausstrahlt. Die blonden Haare kurz, das Gesicht allwetterimprägniert. Wenn er dann noch die Mundwinkel beim Sprechen herunterzieht, wirkt er ein bisschen wie Charlie Watts.

Das Gründungsmitglied der Rolling Stones sitzt seit den Sechzigern beständig an den Drums der Band. Wenn er sich bei der Vorstellungsrunde der Musiker nach all den anderen Exzentrikern still erhebt, brandet der lauteste Applaus auf. Tony Hibbert hat nicht Schlagzeug gespielt, sondern Rechtsverteidiger. 15 Jahre in der ersten Liga, er hätte Familienfotos und Zimmerpflanzen an die Außenlinie stellen können. Gab es nie Angebote anderer Klubs? »Zwei Mal haben mich andere Vereine angerufen«, erzählt Hibbert. »Doch ich habe ihnen direkt abgesagt. In mir drin war immer das Gefühl, dass ich hier niemals weggehen möchte. Ich hätte es einfach nicht übers Herz bringen können.«

In der Schule mit Steven Gerrard

Hibbert muss bei der Antwort nicht lange nachdenken, es kommt direkt aus ihm heraus. Im Scouser-Dialekt dieser Gegend, bei dem die Worte manchmal klingen, als hätte man sie noch einmal durch den Mersey River gezogen, sie dann ausgewrungen, bis sie auf den Tisch vor einem platschen. Hibbert wuchs im Liverpooler Arbeiterbezirk Huyton auf, zusammen mit Steven Gerrard, der Legende des Lokalrivalen. Die beiden spielten zusammen in der Schulmannschaft, doch spätestens, als sie sich ihren jeweiligen Klubs anschlossen, endete der Kontakt. Hibbert kickte in der Jugend für Everton, stieg bei den Spielen der ersten Mannschaft auf die Tribüne und schaute am anderen Tag seinem Vater in der Freizeitliga zu. Das war für ihn ein perfektes Wochenende.

Wie lange Hibbert bei Everton spielte, zeigt sich daran, dass er sowohl mit Paul Gascoigne in dessen letzten Schaffensjahren als auch mit Wayne Rooney in dessen erster Profisaison auflief. Hibbert schwärmt noch heute davon, welch eine Freude es für ihn als Mitspieler gewesen sei, den beiden zuzuschauen. Er selbst schaffte es nie zu höheren Weihen, nur in einer Saison wies ihn die offizielle Statistikseite der Liga als besten Rechtsverteidiger aus. Zu einem Länderspiel für England reichte es aber nie.

When Hibbert scores, we riot

Dass er nie ein Tor schoss, störte ihn nicht, sagt er. Er hatte einen Job zu erledigen, und das war nun mal das Verteidigen. Seine Karriere endete, als der Klub im Sommer 2016 auf seiner Homepage schlicht mitteilte, dass Hibberts Vertrag und der seines Kumpels Leon Osman nicht verlängert würden. Hibbert erfuhr nur davon, weil seine Frau die Meldung gelesen und ihn angerufen hatte. Es war wie die Geschichte eines Fließbandarbeiters, 40 Jahre für die Firma geschuftet, keinen Tag krankgefeiert, dann ohne Blumenstrauß in Rente geschickt.

Die Wertschätzung der Fans brachte der Klub nur selten auf. Hibbert fragte zwei Jahre lang, wann er sein Testimonial bekäme. Dann legte David Moyes, der langjährige Trainer, dieses Jubiläumsspiel auf einen schnöden Vorbereitungskick gegen AEK Athen. Alles solle bitte so sein wie immer, ordnete Moyes an. Die Mannschaft solle sich auf die Saison vorbereiten – und zu Freistößen oder Elfmetern die üblichen Schützen antreten, auf keinen Fall Hibbert. Die Fans konnten solch nüchterne Ansagen nicht bremsen, sie druckten weiter Shirts und beschrieben Banner mit der Ansage: When Hibbert scores, we riot.

Hibbert selbst fragte den Trainer David Moyes und die Funktionäre, wie sie denn damit umgehen würden, wenn er treffen würde und die Fans ausrasteten, sprich: den Platz stürmen. Er wurde belächelt. »Sie stürmen schon nicht.« Hibbert sagte: »Das tun sie. Glaubt es mir.« Warum war er sich da so sicher? »Ich kenne die Fans, ich stand mit ihnen zusammen im Block, ich komme von hier. Ich wusste: Sie stürmen.«

Nach einer halben Stunde liegt Everton bereits mit 3:1 in Führung, das Spiel ist entschieden. Kurz nach der Pause bekommt das Team einen Freistoß in aussichtsreicher Position vor dem gegnerischen Strafraum zugesprochen. Nicht Hibbert, hat der Trainer gesagt. Doch der läuft nach vorne. »Bainsey (Leighton Baines, d. Red.) schaute mich fragend an. Ich sagte nur ,Yeah‘ und nahm mir den Ball.« Die knapp 18 000 Fans im Stadion vibrieren, sie stammeln fast diesen einen Namen. Hibbert. Hibbert. Er nimmt sich den Ball. Viele zücken ihre Handys. Könnte das der Moment sein, nach 308 Spielen ohne Tor? »There is a big roar among the fans. Is this the moment?«, fragt der Kommentator.

Leon Osman, Mittelfeldspieler bei Everton und Hibberts bester Kumpel, hat einen Plan. Er stellt sich in die Freistoßmauer der Griechen. Er packt die Gegenspieler beim Trikot. Hibbert macht sich bereit und Osman legt seinen Körper zur Seite und schiebt die Athener mit allem weg, was er hat. Es ist ein glasklares Foul, doch wenn der Zweck jemals die Mittel geheiligt hat, dann jetzt in diesem Moment im Goodison Park.

Hibbert zieht die Stutzen hoch, tritt einen Schritt nach vorne, dann zurück, er läuft an und trifft den Ball, nicht unbedingt hart, aber der Schuss fliegt gerade nach vorne. Mitten durch die Lücke. Athens Torwart sieht den Ball spät, er springt runter und erwischt ihn mit den Fingerspitzen. Doch das reicht nicht. Der Ball flutscht, er flutscht über die Finger, über die Linie, ins Eck, ins verdammte Tor.

Die Fans rutschen kopfüber über den Rasen

»It’s in. Tony Hibbert scores! A moment we never thought we’d see!« So schreit es der Kommentator heraus. Im Stadion ploppt ein urgewaltiges »Yeaaaah« aus den Tribünen, sie japsen vor Freude, als hätte Everton einen Pokal gewonnen. Sekunden danach springt der Erste wie von Sinnen über die Bande und rennt auf Hibbert zu. Ihm folgen zwei, drei, dann ein Dutzend, dann 50, die Ordner in ihren gelben Westen jagen ihnen nach. Doch die Fans kommen von allen Tribünen, es dauert nicht lange, dann sind Hunderte auf dem Rasen, Halbstarke, alte Leute, Frauen, Kinder.

Sie rennen mit ausgebreiteten Armen durch den Strafraum, rutschen kopfüber hin und her. Hibbert hat sich gerade aus dem Jubelknäuel seiner Mitspieler gelöst und dreht sich zur Seite, als der erste Fan ihn erreicht. Doch dieser ist zu übermotiviert, er rutscht aus und grätscht Hibbert im Fallen um. Hibbert liegt auf dem Fan und die anderen schmeißen sich auf ihn. Evertons Spieler müssen ihren Kollegen von den ausrastenden Fans befreien und zur Mittellinie bringen. Die Spieler von Athen sprinten in die Kabine. Niemand hat ihnen erzählt, was los ist. Und nun stehen hunderte Fans auf dem Platz.

Hibbert spricht über den ersten Moment, an dem er wieder klar denken konnte. Er verspürt Genugtuung. »Ich habe gelacht. Mein erster Gedanke war, nach dem Spiel zum Trainer und zu den Verantwortlichen zu gehen. ,Ich hab’s euch doch gesagt. Sie stürmen. Ich hab’s euch doch gesagt.‘« Hunderte auf dem Rasen und Tausende auf den Rängen rufen derweil so laut sie können in den Nachthimmel über dem Goodison Park: »He scores when he wants – oh Tony Hibbert, he scores when he wants.« Oh Tony Hibbert, er trifft, wann er will.

Eine große Party können die Spieler allerdings nicht feiern. Trainer Moyes will die Vorbereitung nicht gestört wissen, das Trainingslager steht an. In der Kabine überreicht Hibbert seinen Mitspielern ein Geschenk, wie es Tradition bei solchen Jubiläumsspielen ist. Viele geehrte Spieler verteilen iPads oder Uhren. Hibbert gibt jedem eine kleine Flasche Brandy, auf der das Datum und das Spiel eingraviert sind. »Das fand ich irgendwie passend.« Danach fährt er nach Hause und trinkt eine Tasse Tee.

Nach seinem Karriereende hat sich Hibbert aufs Fischen konzentriert und ein kleines Haus an einem See in Frankreich gepachtet. Nachdem er einen knapp zwanzig Kilogramm schweren Karpfen gefangen hatte, interviewte ihn das Portal Go Fishing. Das war es mit dem Ruhm. Everton hat weniger Interesse an seinem langjährigen Verteidiger, Gespräche über eine Anstellung im Klub gab es nie.

Goodison, Flutlicht, das Tor

Was bleibt, sind Erinnerungen, wie jener Abend gegen Athen. Für Hibbert ist das Tor jedoch bei weitem nicht der beste Moment seiner Karriere. »Mein Debüt rangiert ganz oben, zum ersten Mal für meinen Klub zu spielen, das war groß. Dann kommen all die Derbysiege. Und irgendwann dieser Treffer. Aber in dieser gesamten Konstellation, Goodison, Flutlicht, das Tor, Platzsturm, das alles war schon großartig.«

Noch heute trifft er mindestens einmal pro Woche einen aufgeregten Everton-Fan auf der Straße, der ihm mit glänzenden Augen erzählt: Ich war da, als du das Tor geschossen hast. Und Hibbert fragt zurück: Ah ja, bei welchem denn genau?