Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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Interview

„Wo renn` ich denn da rum?“

In einem Jahr vom Zweitliga-Profi zum Weltmeister: Christoph Kramer erinnert sich ans Endspiel und harte Zeiten in seiner Jugend

Fotos: Jan Welchering

In einem Jahr vom Zweitliga-Profi zum Weltmeister: Christoph Kramer erinnert sich ans Endspiel und harte Zeiten in seiner Jugend

Christoph Kramer, haben Sie sich eigentlich das WM-Finale schon einmal ganz angeschaut? Nein, nur in Ausschnitten im Internet.

Wir haben die Aufnahme mitgebracht. Wenn ich die Bilder sehe, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Es waren schon mehr Argentinier da, das hört man. Doch ich war überrascht, dass ansonsten so viele deutsche Fans bei unseren Spielen waren und wie unglaublich laut die waren.

Sami Khedira musste passen, Sie haben erst kurz vor dem Anpfiff von Ihrem Einsatz erfahren. Sie sagten hinterher, Sie hätten einen Puls von 210 gehabt. Was haben Sie gegen die Aufregung getan? Der Bundestrainer hat mir gesagt, dass ich mein Spiel durchziehen soll. Und ich habe mir immer wieder eingeredet: „Du machst ein super Spiel, du machst ein super Spiel! Das wird ein guter Tag, das wird ein guter Tag!“ Das bringt schon etwas. Aber man hat schon gemerkt, dass es das WM-Finale und das Maracanã-Stadion war. Bei allen anderen hat es auch schon mehr geprickelt. Doch mit dem Anpfiff war die Anspannung weg, da war es dann ein ganz normales Spiel.

Haben Sie das Drumherum komplett ausgeblendet? Nein, im Gegenteil. Ich sauge die Atmosphäre auf. Ich ziehe daraus Energie.

Hier kommt der Zusammenstoß mit dem Argentinier Ezequiel Garay in der 17. Minute. Was ist danach passiert? Der Doc hat mir tausend Fragen gestellt und ich konnte wohl alles beantworten. Aber ich sehe erst jetzt, wie lange ich dann noch weitergespielt habe. Das ist komisch: Ich zeige auf den Bildern auch noch alles an, wie ich den Ball haben will. Aber ich kann mich an diese Momente echt nicht mehr erinnern. Ich kann mich erinnern, wie ich vorher den Ball nach einem Zweikampf mit der Brust annehme. Aber die Chance von Higuain habe ich nicht mehr auf dem Schirm, obwohl das kurz danach war.

Stimmt es, dass Sie den Schiedsrichter fragten, ob das Spiel hier das Finale sei? Ja, und auch noch einmal Thomas Müller. Der hat dann gesagt, ich soll mich hinlegen und der Bank das Zeichen gegeben dass ich ausgewechselt werden muss. Das ist schon komisch. Normalerweise bin ich bei den Freistößen hinten eingeteilt, aber da stehe ich weit vorne. Wo laufe ich denn da rum? Noch einmal ein Spurt nach vorne, ich renne ja wie aufgescheucht.

Wie haben Sie den Rest des Spiels nach Ihrer Auswechslung erlebt? Zur zweiten Halbzeit habe ich mich wieder auf die Bank gesetzt und mitgefiebert. Es war echt der Wahnsinn, wie alle Ersatzspieler mitgegangen sind. Wenn ich hier bei der Borussia auf der Bank sitze, bin ich sauer. Oh, jetzt muss ich aufpassen, was ich sage – obwohl, als Weltmeister darf man alles. (Lacht.) Was ich sagen will: Bei der Nationalmannschaft waren alle gut drauf, haben gelacht, gestrahlt – da war eine unglaublich positive Energie. Deswegen konnten wir auch in der 116. Minute im Finale noch so marschieren, weil die Ersatzspieler das Team so gepusht haben.

Viele Spieler haben nach dem Turnier von der Atmosphäre innerhalb der Mannschaft geschwärmt, wie haben Sie als Newcomer es erlebt? Ich habe vorher damit gerechnet, dass bei der Nationalelf Grüppchenbildung herrscht. Doch schon am zweiten Tag fühlte ich mich als vollwertiges Mitglied der Mannschaft, als hätte ich hundert Länderspiele. Wahnsinn, wie die Jungs mich aufgenommen haben, da kannst du jeden nennen: Hummels, Lahm. Schweinsteiger, Khedira, Özil, Neuer – alle. Mit Manuel Neuer telefoniere ich noch häufig.

Wie fanden Sie die Idee mit den Wohngemeinschaften? Es war zwar eine WG, aber jeder hatte sein eigenes Zimmer und Bad. Ich war zwar mit Lahm, Müller Hummels und Durm in einem Haus, aber da waren wir nicht oft. Wir haben uns immer mit der ganzen Mannschaft draußen bewegt, das hat sich so verlaufen. Wir hatten es nur 50 Meter zum Strand, haben Boccia gespielt, ein Tischtennis-Turnier veranstaltet, an der Playstation gezockt, Fußball geschaut. Das Campo Bahia war wirklich wichtig für uns. Wir waren zwar voll fokussiert auf den Erfolg, aber manchmal war es wie im Robinson-Club.

Sie haben zum Einstand vor dem Team gesungen. Ja, es war ein Stück von Ronan Keating: „When You Say Nothing At All“. Zuerst waren die anderen skeptisch, aber dann habe ich sie mit meiner Stimme überzeugt. (Lacht.)

Und wie war die Titelfeier? Daran habe ich nicht mehr so viele Erinnerungen. Eine Gehirnerschütterung und dann viel durcheinander trinken – das ist keine gute Mischung.

Wie lebt es sich als Weltmeister? Im Urlaub auf Mallorca musste ich beim Bäcker nicht bezahlen. Wenn man in der Bundesliga spielt, erkennen einen die Leute in Deutschland. Durch die WM wird man überall angesprochen. Im Moment ist das ein echt gutes Gefühl. Und ganz ehrlich: Wenn Deutschland 2002 Weltmeister geworden und Miro Klose bei mir daheim vorbeigekommen wäre, hätte ich ihm auch alles ausgegeben.

In Ihrer Heimatstadt Solingen gab es einen großen Empfang. Das hat mich auch überrascht, das war wie bei einem Topstar. Ich merke auch, dass selbst enge Bekannte mich jetzt anders ansehen. Aber ich denke, das legt sich wieder. Auch meine Eltern haben das alles noch nicht so richtig realisiert. Und ich erst recht nicht.

„Ich habe den Anschluss an meine Freunde verloren. Ich habe oft geheult.“

Heute sind Sie Weltmeister, aber stimmt es, dass Sie in der C-Jugend von Bayer Leverkusen aussortiert wurden, weil Sie angeblich zu klein waren. Der Grund war eher vorgeschoben. Es lag vor allem daran, dass ich in der Hackordnung ganz unten war. Der damalige Trainer hat diese bestimmt und nicht gesehen, was ich konnte. Ich hatte Probleme mit meiner Körpergröße und dadurch auch mit meinem Selbstbewusstsein.

Wie haben Sie diese „Hackordnung“ konkret erlebt? Bei 20 Kindern in der Pubertät, dazu noch in einer Fußballmannschaft, gibt es immer Stärkere. Das sind meistens auch diejenigen, die immer spielen. In diesem Alter hänseln oder ärgern sie die anderen. Die Stärkeren fressen die Schwächeren, und ich war klein, schmächtig und habe nicht gespielt. Ich war damals vielleicht der Beste, was die Anlagen angeht, aber auf dem Platz der Schlechteste. So wurde ich auch behandelt. Mit 14, 15 Jahren lässt dich nicht kalt, was die anderen sagen. Dazu muss man reifen. Meine technischen Fähigkeiten habe ich in der Jugend von Bayer erworben, aber ich konnte sie nicht auf den Platz bringen.

Und gingen zu Fortuna Düsseldorf. Das war eine ganz harte Zeit für mich. Ich habe in dieser Phase auch den Anschluss an meine Freunde verloren, weil ich mir nur Gedanken über den Fußball gemacht habe. Denn seit ich drei Jahre alt war, wollte ich nie etwas anderes werden als Fußballprofi, und plötzlich drohte dieser Traum zu platzen. In dieser Zeit habe ich oft geheult.

Wer hat Ihnen beigestanden? Ich bin eher der Typ, der alles mit sich selbst ausmacht, aber meine Eltern haben mir Mut zugesprochen. Trotzdem war allen klar, dass meine Fußballkarriere vorbei war. Der Tenor war: Das ist jetzt nur noch ein Hobby. Für mich ging es mit dem Wechsel von Leverkusen zu Fortuna Düsseldorf gleich zwei Ligen tiefer. Da habe ich nicht mehr gegen Schalke 04 gespielt, sondern gegen Eller 04. Fortuna Düsseldorf spielte damals in der vierten Liga, allein der Unterschied in der Trainingsanlage war unglaublich.

Inwiefern? In Leverkusen gab es eine riesige Anlage mit vielen Plätzen in super Zustand, Krafträume, große Duschräume. Da machst du die Dusche an, und es kommt warmes Wasser raus. Das weiß man manchmal gar nicht zu schätzen. In Düsseldorf war die Kabine klein, hat deftig nach Urin gestunken, und da saß ich dichtgedrängt mit 25 Probespielern. Ich will den Verein nicht schlecht machen, aber damals war nun mal kein Geld da. Meine Mitspieler haben mich anfangs auch nicht gemocht, sie haben mich „Leverkusener Bubi“ genannt.

Hatten Sie mit dem Traum vom Profifußball abgeschlossen? Ein, zwei Monate lang war ich in einem richtigen Tief, ich habe jede Nacht geheult. Das war die schwierigste Phase in meinem Leben bisher. Ich weiß noch, wie mich meine Mutter zum ersten Training gefahren hat. Ich habe mich noch einmal umgedreht, bevor ich durch die Tür gegangen bin. Sie hat mir angesehen, wie dreckig es mir ging und sagte: „Du musst das nicht machen, wenn du nicht willst.“ Aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich mir sagte: Du ziehst das jetzt durch, die Zeit wird dir recht geben.

Wie verliefen die nächsten Monate? Ich habe unglaublich viel für meine Fitness getan – davon profitiere ich noch heute. Mit 17 bin ich jeden Tag zusätzlich zum Training eine halbe Stunde vorher und nachher laufen gegangen. Ich habe richtig hart trainiert und alles dem Fußball untergeordnet. Das hat mir dann wieder so eine soziale Dysbalance beschert: in der Schule, bei meinen Freunden. Ich habe mir von meinen Eltern gewünscht, dass ich einen Kraftraum mit einer Hantelbank in unserem Keller bekomme, weil es das bei Fortuna nicht gab.

Hat sich auch Ihr Verhältnis zu den Mitspielern geändert? Wenn du der Beste in der Mannschaft bist, dann bist du auch akzeptiert. Ich treffe mich heute noch mit vielen aus dem Team, wir sind richtig gut befreundet. Es hört sich blöd und banal an, aber ich wollte allen zeigen, dass ich Fußballprofi werde. Und ich wurde Stück für Stück belohnt: Ich bekam die Nummer 10, habe viele Tore geschossen, dann wurde ich Kapitän. Die positiven Signale haben mich weiter angespornt. Nach Erfolg kann man süchtig werden. Plötzlich bekam ich Angebote aus Aachen oder Bonn, im Jahr darauf hätte ich einen Vertrag bei Schalke, Gladbach, Bochum oder Essen sicher gehabt. Leverkusens U19 bot mir aber nur ein Probetraining an.

Sie haben sich für das Probetraining entschieden. Aus Trotz? Ich wollte denen zeigen, dass die C-Jugend-Trainer damals keine Augen im Kopf hatten. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich vorbereitet habe. Ich habe zwei Tage lang nur Spinat gegessen, am Tag des Probetrainings habe ich die Schule geschwänzt, um total ausgeschlafen zu sein. Das Training war wohlgemerkt um 17 Uhr. In der Bayer-Jugend waren damals Spieler wie Marcel Risse, Bastian Oczipka oder Nils Texeira – das waren Helden für mich. Ich habe aber ganz gut trainiert und Sascha Lewandowski hat mir die Chance gegeben.

„Wenn 50 000 pfeifen, dann juckt mich das nicht mehr“

Welchen Stellenwert hat Ihr ehemaliger A-Jugendtrainer für Sie? Sascha Lewandowski ist derjenige, der mich am meisten im Fußball gefördert hat. Er hat sehr viel mit mir geredet und mir viele Szenen gezeigt. Ich habe so Fußball mit ganz anderen Augen gesehen. Wenn du dafür offen bist und ihm zuhörst, dann kannst du dich in vielen Kleinigkeiten verbessern. Du brauchst nur eine Gabe: Du musst zuhören.

Neben Sascha Lewandowski trafen Sie auf eine zweite wichtige Bezugsperson: Stefan Grummel. In der zweiten Mannschaft von Bayer hat uns Trainer Ulf Kirsten auf ein Zimmer gelegt. Wir waren so was von auf einer Wellenlänge, das kann man sich gar nicht vorstellen. Im zweiten Jahr war ich erster und er zweiter Kapitän. Da haben wir angefangen, Dinge in die Hand zu nehmen, sonst wären wir abgestiegen.

Was haben Sie beide denn gemacht? Wir haben viel mit den Spielern geredet. Stefan hat für das Extra-Training eigene Spielformen und besondere Torschussformen kreiert. Wir haben die anderen mitgerissen. In diesem Jahr haben wir auch Grütze gespielt, aber es war eine Riesenerfahrung. Wir beide sehen uns im Endeffekt wohl wichtiger, als wir tatsächlich waren. (Lacht.) Die meisten Sachen hatten wir sowieso von Sascha Lewandowski abgekupfert.

Warum hat es in Leverkusen eigentlich nicht zu einem Profivertrag gereicht? Ich durfte einmal in der Woche bei den Profis mittrainieren. Doch ich habe schnell gemerkt, dass ich da keine Rolle spiele. Jupp Heynckes kannte meinen Namen nicht, und da liefen Vidal, Ballack, Rolfes, Bender rum. Alles Konkurrenten um eine Position im defensiven Mittelfeld, da konnte ich doch nichts holen. Ich war kein Teil der Mannschaft, ich war Jugendspieler. Deswegen war Bochum der goldrichtige Schritt.

Obwohl Ihnen VfL-Kapitän Christoph Dabrowski angeblich gleich eine klare Ansage gab? Der hat natürlich gesehen, dass ich kicken kann. Und Christoph Dabrowski ist eine absolute Ikone in Bochum. Er ist der sportlichste und fairste Mensch, den ich kenne. Er hat sich in der Kabine vor mir mit seinen 1,95 Metern aufgebaut und gesagt: „Ich mag dich, aber du spielst auf meiner Position. Und die gebe ich nicht her.“ Da sagt man als junger Spieler nichts mehr. Das hat er mich im Training auch spüren lassen. Es ging zur Sache, aber nie unfair oder hinterlistig. Wir haben heute noch ein super Verhältnis und schreiben uns ständig.

In Bochum war in der zweiten Liga Abstiegskampf angesagt. Sie sagten einmal: „In Bochum haben wir nur auf die Fresse bekommen.“ Ich bin 23 Jahre alt, und wenn jetzt 50 000 Leute pfeifen, dann kann ich sagen: „Mich juckt das nicht mehr.“ Ich habe in Bochum alles erlebt, was man erleben kann. Ich hatte vier Sportliche Leiter in zwei Jahren. Wir haben 1:6 in Aue verloren, wurden mit Schneebällen beworfen, die Fans haben uns Schweineköpfe über den Zaun entgegengeworfen, Scheiben eingeschlagen, uns beschimpft und bespuckt – alles zurecht, weil wir eine unglaubliche Grütze gespielt haben. Das war eine raue und harte Zeit, aber nun einmal lehrreich.

Sie haben immer noch eine Dauerkarte beim VfL. Ich bin so dankbar für die Zeit in Bochum. Die Fans dort, wie soll ich es sagen … das ist wahre Liebe für den Verein. Ich hatte mir im letzten Spiel gegen Union Berlin so sehr gewünscht, ein Tor zum Abschied zu schießen – und dann klappt das! 30 000 rufen nach dem Schlusspfiff unglaublich laut meinen Namen, das war so emotional. Noch vier Stunden nach dem Spiel saß ich im Whirlpool und mir liefen die Tränen herunter. Ich wäre am liebsten dort geblieben, aber für meine weitere Karriere konnte ich nicht in der zweiten Liga spielen. Doch noch heute fahre ich nach Bochum, wenn es mir schlechtgeht. Wenn ich dieses Stadion betrete, spüre ich so eine krasse Verbundenheit zu den Leuten. Da bin ich zu Hause. Dieser Verein und die Fans haben mir eine wahnsinnige Kraft gegeben.

Sie haben in Bochum mit Stefan Grummel in einer WG gewohnt. Die Zeit in der WG war weltklasse. Wir haben von morgens bis abends aufeinander gehockt, zusammen gegessen, uns abends vorm Fernseher verquatscht. Es gab nicht mal den Hauch eines Streits, noch nicht einmal eine Meinungsverschiedenheit. Der Kerl ist mir bis heute nicht ein einziges Mal auf den Sack gegangen.

Sie haben sich also auch nicht darüber gestritten, wer sauber macht? Ich bin krass ordentlich, er nicht – er sieht das genau andersrum. Stef hat immer seine Nudeln mit Tomatensauce und Thunfisch gekocht. Danach hat die ganze Küche gestunken. (Lacht.) Aber auch das war kein Problem. Wir haben auch gute Partys veranstaltet – aber alles zur angemessenen Zeit.

Sie wären kurz darauf als Zweitligaspieler beinahe bei Benfica Lissabon gelandet. Ja, ich hätte nur noch unterschreiben müssen und wäre auch gerne hingegangen. Aber Leverkusen wollte mich nur verleihen und Benfica wollte nur kaufen. Ich war mir mit Benfica einig. Das Stadion ist Weltklasse, die Bude ist immer voll, es ist von den Mitgliedern her der größte Verein der Welt, die Trikots und Logos sind geil. Ich wäre kurz darauf auch fast nach Freiburg gegangen, weil der Verein gut zu mir gepasst hätte. Das Angebot von Gladbach kam eher last minute, aber ich musste letztendlich dabei nicht mehr lange überlegen. Das Ding ist in ein, zwei Tagen über die Bühne gegangen.

Wie wichtig waren für Sie in der ersten Saison Trainer Lucien Favre und Ihr Kumpel Max Kruse? Als ich in den ersten Wochen hier trainiert habe, habe ich jedes Training120 Prozent gegeben. Das hat viel Kraft gekostet, aber der Trainer hat mir dann das Vertrauen geschenkt. Lucien Favre ist für mich Gold wert, denn er hat an mich geglaubt und mich weiter gebracht. Er hat großen Anteil daran, dass ich jetzt hier sitze und sagen kann: „Ich bin Weltmeister.“ Und über Max kann man sagen, was man will, aber er hat nun einmal eine brutale Qualität: Wenn du mit dem Jungen etwas Zeit verbringst, bist du danach einfach nur gut drauf.

Sie waren über den Jahreswechsel zusammen in Australien im Urlaub. Max Kruse hat uns von einer besonderen Begegnung beim Wandern erzählt. Was war da los? Er war ja nicht dabei, hat sich aber später darüber kaputtgelacht. Ich habe die Gegend erkundet und bin wandern gegangen. Plötzlich habe ich direkt vor mir eine Braunschlange gesehen, das ist angeblich die zweitgiftigste Schlange der Welt. Da bin ich aber 500 Meter im Vollsprint geflitzt, und die Tour war zu Ende.

„Ein Drittel Talent, ein Drittel Ehrgeiz und ein Drittel Glück“

Ungefähr zur gleichen Zeit wurden Sie auf die Nationalmannschaft angesprochen und haben gesagt: „Nein, das kommt zu früh, da muss man realistisch sein.“ Noch vor vier Monaten hätte ich mein gesamtes Geld dagegen gewettet, dass ich bald eingeladen werde. Im Endeffekt brauchte es auch viele, in Anführungszeichen „glückliche“ Umstände. Es gab die vielen Verletzungsprobleme auf meiner Position und ich habe im Testspiel gegen Polen, wo fast alle Stammspieler fehlten, einen guten Tag erwischt. In der Karriere braucht man ein Drittel Talent, ein Drittel Ehrgeiz und ein Drittel Glück. Letzteres habe ich voll ausgeschöpft. Ich kenne viele Spieler, die mehr Talent als ich haben und vielleicht auch mehr für die Nationalmannschaft getan haben.

Also meinen Sie, dass Sie Ihr Glück nun ausgereizt haben? Nein, da habe ich keine Sorge. Ich habe mir alles auch hart erarbeitet. Ein Beispiel: Gegen Polen in der U20 habe ich ein Tor geschossen, sonst wäre ich nie zum VfL Bochum gekommen. Denn bei diesem Spiel hatte ich das Glück, dass der Scout des VfL auf der Tribüne saß. In meiner Karriere war ich acht bis zehn Mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber es gehört auch Qualität dazu, dass man in diesen acht bis zehn Momenten dann auch seine Leistung bringt.

Wie bei dem Länderspieldebüt gegen Polen vor der WM? Um ehrlich zu sein: Ich war am Tag davor platt. Ich hatte bei Gladbach trainiert wie eine Wurst, ich konnte nicht mehr, mir tat alles weh. Und dann lag ich im Bett und dachte: „Junge, A-Nationalmannschaft – das ist ein Traum, genieß das.“ Im Spiel bin ich 14 Kilometer gelaufen, ich war im Flow, ich habe mich so gefreut, den Adler auf der Brust zu tragen. Anschließend kam der Bundestrainer nachts im Hotel zu mir und sagte: „Wir haben Sorgen auf der Sechser-Position, du kommst mit ins Trainingslager.“

Inzwischen sind Sie Weltmeister, und angeblich sind reihenweise Spitzenvereine an Ihnen interessiert. Können Sie das ausblenden, wenn etwa der SSC Neapel für Sie Millionen bietet? Wieso ausblenden? Das adelt mich doch eher und ist etwas Positives.

Rudi Völler hat aber schon angekündigt, dass Sie so oder so im nächsten Jahr in Leverkusen spielen werden. Ich sehe mich da als den Entscheidungsträger. Mir muss der Fußball Spaß machen – sollte das nicht der Fall sein, dann bringt es nichts. Niemand kann mich dann zu einem Schritt zwingen.

Wann wollen Sie sich entscheiden? Zuerst freue ich mich jetzt auf die Europa League und die Saison mit Gladbach. Ich lasse jetzt erst einmal alles auf mich wirken, dann kann man sich vielleicht Anfang 2015 zusammensetzen. Es gibt noch keine Tendenz. Aber mir ist wichtig, dass man mir vertraut, dass der Verein weiß, was er an mir hat. Das ist bei Borussia gegeben.